Gesuche

Auf der Zunge

Beisser | Anne Seubert

Mein Herz trägt Wonderbra, sein Hirn auf der Zunge und Blusen mit Blümchen, ich schäme mich nicht einmal heimlich, frage mich aber schon, warum.

Meine Beine wünschen sich eine Verlängerung, dabei hat der Urlaub noch nicht begonnen, aber die Schuhgröße hätte das Potenzial.

Mein Haus steht in einem Garten, der offenkundig zur Blüte neigt und hält ein Meer im Ärmel versteckt, das dich Salz lecken lässt, reichst du mir die Hand.

Gesuche

Krise als Einladung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen

Burning News | © Elijah O'Donnell
Photo by Elijah O’Donnell on Unsplash

 

“Stop concentrating on your own happiness
and start looking out for the happiness of others.”
Stefan Sagmeister

Was muss ein Mensch können, mit dem ich gern zusammen bin? Mit ihm oder ihr laut denken zu wollen und zu können, Fragen zu stellen, auf die wir keine Antwort wussten, stand schon immer ganz oben auf meiner Liste. Dicht gefolgt, von möglichst tollen Dingen, die ich von ihnen lernen kann. Das dies zugleich ein hervorragendes Kriterium ist für Menschen mit denen man eine Krise überstehen muss und dass die Voraussetzung dafür ist, dass man selbst gerne laut denkt – geschenkt!

Unsicher, empfindlich, zart und verletzlich, skeptisch & unvorhersehbar – Beschreibungen, die wir heuer nicht mehr nur für einzelne Menschen zu Protokoll geben, sondern für Unternehmen, Konzepte, Gemeinschaften, Perspektiven, unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft. Wir sprechen damit aus, was wir wahrnehmen, auch wenn sich der Zustand gar nicht so sehr verändert hat. Er wird uns nur deutlicher bewusst und mit dieser Bewusstwerdung entsteht das Bedürfnis, diese Wahrnehmung auszudrücken, sie mitzuteilen und damit auch gleichsam wieder in Frage zu stellen. Denn wer ausspricht, fordert Zustimmung oder Ablehnung, ordert den Diskurs, auch wenn ihm das nicht immer bewusst.

Eine Einladung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen

“Wir sind zur Ruhe aufgerufen und spüren doch eine innere Unruhe.
Wir sollen Geduld haben und suchen doch ungeduldig nach Normalität.”
Frank-Walter Steinmeier

Und so ist die Unsicherheit auch eine Einladung zu denken. Zu denken bedeutet im eigentlichen Sinne uns unseres Verstandes zu bedienen und mit ihm zu arbeiten. Laut oder leise nachzudenken, uns zu besinnen auf unsere Ressourcen und Erfahrungen, auf unsere Netzwerke und Fähigkeiten. Auf unsere Zweifel auch und unsere Ängste. Und unsere Freiheiten.

Die Gedanken sind frei und damit schwer zähmbar, Fluch und Segen zugleich. Die Freiheit des Denkens ist eine, die uns geschenkt wird. Sie beinhaltet die Wählbarkeit von Bedeutungen, die Möglichkeit von Erkenntnis und die Zuordnung von Interpretationen und Bedeutungen und nicht zuletzt die Möglichkeit zu verstehen. Sie beinhaltet auch das Kombinieren von Situation und Bedürfnissen, von Entwicklung und Dynamik.

Das Denken hat auch die Möglichkeit vorauszueilen. Wir können uns vorausdenken in Möglichkeiten und Wünsche, in Szenarien und Zukünfte. Wohl dem, dem es gelingt, mehrere Optionen gleichzeitig zu eruieren und nicht in Passivität zu verfallen: Die Frage, was als Nächstes kommt, bevorzugt Passivität. Die Frage, welcher Schritt als Nächstes angebracht sein könnte, optioniert zumindest die eigene Aktivität und damit Gestaltungsmöglichkeit der weiteren Zukunft. Die Frage, was das Schlimmste wäre, was passieren könnte, und damit gleichzeitig und durchaus die Möglichkeiten einschränkend, das Schlimmste, das ich mir vorstellen könnte zu kontrastieren mit der Frage, was wäre das Tollste, das passieren könnte, erhält uns den gedanklichen Spielraum.

Ergänzend ergeben sich weitere Möglichkeiten aus dem was ich mir wünsche. Zu überlegen, was das Unwahrscheinlichste, Poetischste, Langweiligste, Lustigste oder Wirkungsvollste wäre, das passieren könnte, erhöht die Kreativität und den Lustfaktor, weiterzudenken. Und es vermeidet Schwarz-Weiß-Denken.

Co-Thinking | Janko Ferlič
Photo by Janko Ferlič on Unsplash

Co-Thinking | Wer beim Denken im eigenen Kopf bleibt, verpasst das Beste

 

So sehr wir uns gerade einschränken müssen, was unseren Bewegungsradius anbelangt, der Radius unseres Denkens ist davon nicht betroffen. Viele Bibliotheken bieten digitale Services an, Buchhandlungen liefern und neben Lesen als Input ist es der Austausch mit anderen, der das eigene Denken beflügelt. Wer alleine denkt, entzündet ein Licht, wenn viele gemeinsam denken, wird es hell?

“Erst denken, dann reden!” oder „Wer keine Ahnung hat, lieber mal die Klappe halten!“ Wohl jeder wird diese Erziehungsweisheit früher oder später einmal zu hören bekommen haben. Sie bezieht sich jedoch auf eine Definition der Rede, die kundtut, die sendet, die erklärt, ist jedoch nicht anzuwenden auf die sokratisch geprägte Schule des Lernens und was anderes ist Denken? Die Gedanken auf Wege begleiten, in fremde Dimensionen, wo man noch nicht war und alleine vielleicht nicht einmal gekommen wäre, eben weil man sie auf der eigenen Landkarte nicht verzeichnet hatte.

Die Verhaltensregel wird denn auch von ausgewiesenen Denkern in Frage gestellt, allen voran von Heinrich von Kleist, Preußens unglücklichem Dichter, der neben seinem literarischen Werk auch einige eher philosophische Aufsätze verfasste. Unter ihnen sticht “Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden” besonders hervor.

Über die allmähliche Verfassung der Gedanken beim Reden | Erik Spiekermann

Im Text empfiehlt Heinrich Kleist explizit:

“Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation – also durch Nachdenken – nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Dann wird sich alles von selbst ergeben. Ein solches Reden ist ein wahrhaftes lautes Denken. Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß.”

 

Unsicherheit, eine Lektion in Demut und Lernfreude

 

“Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage,
ob man anders denken kann, als man denkt,
und auch anders wahrnehmen kann als man sieht,
zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist.”
Michel Foucault

Wer denkt, weiß noch nicht. Wer sich unsicher ist, tut gut, mit einer gewissen Bescheidenheit anzutreten, die nicht zu verwechseln ist mit Scham. Nicht zu wissen, nicht weiter zu wissen, ist ein gutes Recht und der beste Ausgangspunkt, um dazuzulernen. Gewissheit ist daher nur bedingt erstrebenswert, Weisheit vielleicht nicht unbedingt ein realistisches Ziel, vielmehr könnte es darum gehen, aus einem zielfixierten Handeln hin zu einem lernbasierten Agieren zu gelangen.

Was kann ich lernen von dir?  Was könnte ich erfahren, wenn ich mich auf die Reise begebe? Was lerne ich bei diesem Projekt dazu? Journalisten kennen das, jeder Artikel, jede Reportage, jeder Interviewgast ermöglicht ihnen das Eintauchen in eine mehr oder minder neue Welt mit eigenen Regeln, eigenen Kausalbeziehungen und oftmals einer eigenen Sprache. Die eigenen (Vor-) Kenntnisse werden immer wieder in fremden Kontexten erprobt und – ergänzt.

Maps / Landkarten | © Andrew Neel
Photo by Andrew Neel on Unsplash

Eitelkeit hat Sendepause. Wer lieber antwortet als fragt, lieber spricht als zuhört muss jetzt umdenken. Die eigenen Urteile einer Generalprüfung unterziehen, und gegebenenfalls auch einmal um Hilfe fragen. Das gilt auch und gerade für Menschen in Führungspositionen, sei es in der Wirtschaft oder in der Politik.

So berichtet der Vorsitzende des Ethikrates, Peter Dabrock, wie ihn der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn um eine Einschätzung bat. Oft werden solche Situationen mit Mut zur Verletzlichkeit kommentiert, aber ist es wirklich ein Zeichen von Verletzlichkeit, wenn ich authentisch bin und fachlichen Rat aufsuche. Wäre nicht das Vorpreschen mit einer Einschätzung, einer Bewertung oder einer Meinung ohne vorheriges Abwägen, recherchieren und einem fachlichen Dialog dazu, also das was man gemeinhin als den Prozess der Meinungsbildung definiert, viel eher als angreifbar und widerlegbar und also Indikator für Verletzlichkeit einzuordnen? Woher kommt unsere Lust, Meinungen unhinterfragt zu übernehmen und in Zeiten, in denen Austausch großräumig im System Social Media stattfindet, missionsartig zu verbreiten?

Kann vom Nutzen ungelöster Probleme nur die Philosophie schwärmen?

 

„So lange du mir dein Zögern nicht zeigst, habe ich keinen Grund, dir zu vertrauen“
Dirk Baecker, Vom Nutzen ungelöster Probleme

Distanz ist dieser Tage ein Stichwort, Manipulation ein anderes, System ein drittes. Mit Systemen und ihrem Einfluss auf unsere Wahrnehmung, unser Denken und unsere Handlungen kennt sich der Forscher und Soziologe Dirk Baecker an der Universität in Witten/Herdecke aus. Vor einigen Jahren hat er mit Alexander Kluge ein Dialogbuch herausgebracht mit dem provokativen Titel: Vom Nutzen ungelöster Probleme. Es ist ein Buch, in dem laut nachgedacht wird und zwar, anders als der Titel es vermuten lässt, weniger über Probleme, sondern viel mehr über Organisationen und ihre Irritierbarkeit bzw. ihre Nichtirritierbarkeit als Arbeitsprämisse, die Dirk Baecker folgendermaßen formuliert:

„Hinzukommt, dass man keine Angst haben, sich nicht fürchten darf. (…) Man darf sich den eigenen Untergang nicht vorstellen.“

Er stellt Theorie und Beobachtung, den wie er sie nennt „Waffen der Forschung“, das konkrete Handeln zur Auslotung des Potenzials einer Situation gegenüber. Nicht nur das Erkennen ihres bislang unausgeschöpften Potenzials, sondern auch die Gestaltung einer Situation, sei sie in der Gegenwart oder in der Zukunft verortet, verlangt eigenes Handeln inklusive des Risikos der Verschlimmerung. Dabei stellt sich jedem von uns die Rollen-Frage:

Wer möchte ich sein in dieser Krise: von Angst getrieben und passiv? Möchte ich lernend meine Interpretation der Situation und damit meine Handlungen adaptieren? Oder möchte ich gar inspiriert und damit potenziell andere inspirierend Hoffnung, Halt und Perspektive vermitteln?

What do I want to be doing during Covid-19 crisis?
What do I want to be doing during Covid-19 crisis? Quelle Guerilla Foundation (?)

 

Denken ist die Fortsetzung der Literatur mit anderen Mitteln

 

“In an age of speed, I began to think, nothing could be more invigorating that going slow.
In an age of distraction, nothing can feel more luxurious than paying attention.
And in an age of constant movement, nothing is more urgent than sitting still.
You can go on vacation to Hawaii or New Orleans three months from now,
and you’ll have a tremendous time, I’m sure.
But if you want to come back feeling new
– alive and full of fresh hope and in love with the world –
I think the place to visit may be Nowhere.”

Pico Iyer, The Art of Stillness

In intensiven wie Krisenzeiten, wenn uns soziale und klassische Medien zu einem unendlichen Nachrichtenkonsum verführen, wäre also das Schreiben angesagt, Literatur und Kunst gefragt als Spiegel und Zeuge einer unbekannten weil neuen Realität, als Ausdruck von kollektiver Ambivalenz und Emotionalität und als Medium des Umbruchs und der Imagination. Wie wichtig Szenarien aus Literatur, Kunst und Film nicht nur für das gedankliche Erproben, sondern tatsächlich als Inspiration und Motivation für den Weg dorthin sind, zeigt sich an unserem wachsenden Bedürfnis nach Geschichten in Krisenzeiten.

Poesie und Kunst bieten uns aber zugleich eine temporäre Zuflucht vor der vermeintlich oder tatsächlich als unerträglich empfundenen Situation, in dem sie uns das Drama einer eigenen Geschichte und das Tasten, Scheitern und Gelingen eines Helden oder einer Heldin bieten. Rahmen, Handlung sowie unsere Rolle sind dabei klar vorgegeben: Wir sind nicht die, um die es geht, aber die, für die inszeniert wird.

Der Poesie beispielsweise obliegt es ja genau, das Nichtkommunizierbare auszudrücken, das, wofür uns die Worte und vielleicht auch die Bilder, ganz sicher aber die Handlungen fehlen, man denke nur an Liebesgedichte. Die Literatur im Allgemeinen setzt Grundgesetze wie Raum und Zeit außer Kraft und der Film bringt Bilder auf die Leinwand, die wir sonst nur in unserem Innersten und mit uns allein zu Gesicht bekommen. In der Literatur dürfen wir uns angesprochen und in unseren tiefsten Sehnsüchten und Ängsten verstanden und abgeholt fühlen, wir sind keinerlei Rechenschaft schuldig und können in umfänglicher Passivität vom Sofa aus das Abenteuer genießen, Gänsehaut und Glückseligkeit, Liebeskummer und Rachegelüste inklusive.

Dare to Fly | © Edu Lauton
Photo by Edu Lauton on Unsplash

Von der Empfänglichkeit der Empfindsamkeit und dem Mut, vom Weg abzukommen

„There is a crack in everything. That’s where the light comes in.” 
Leonard Cohen

Unsicher, empfindlich, zart und verletzlich, skeptisch & unvorhersehbar  – mit diesen Worten hatten wir begonnen und selten sind diese Eigenschaften Teile einer Zielvorstellung. Wenn wir uns aber vor Augen führen, dass genau sie es sind, die uns empfänglich machen für neue Blickwinkel, für Wegesänderungen, für die Kunst des glücklichen Zufalls der, im englischen Sprachraum den schönen Namen Serendipity trägt: Finding something good without looking for it. Die Möglichkeit dieses Lichtstrahls ermöglicht es uns, auf einer hoffnungsvollen Note zu schließen, nicht ohne die eingangs formulierte Einladung, mitzudenken und diese Gedanken in Dialogen zu verfeinern, zu wiederholen: Welche Gedanken treiben euch um, welche Fragen habt ihr?

Quellen- / Leseliste:

Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden
Peter Dabrock im Interview beim Tagesspiegel
Olga Togarczuk: Jetzt kommen neue Zeiten! (FAZ)
Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Der Gebrauch der Lüste. Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main 1986
Dirk Baecker, Alexander Kluge: Vom Nutzen ungelöster Probleme. Mervé Verlag Berlin 2003
Pico Iyer,The Art of Stillness,  2014