Geschwister

Junimädchen mit Novemberlaune

Anfang Juni, genauer am letzten Wintertag 2012 traf ich die Kleine auf einen Teller asiatische Nudelsuppe in Berlin. Es regnete und wir waren am Rosenthaler statt in einer gemütlichen Kneipe verabredet. Ein Schirm? Fehlanzeige. Aber die Kleine war da und sie lächelte und sie war so aufgeregt wie ich. Allerdings erst nach 10 Minuten. So lange dauert es, bis wir uns an einer der vier Ecken endlich in die Arme schlossen, lachend und bereits mittendrin, die vergangenen Jahre in Worte zu fassen.

Sie war aus der Schweiz angereist und hatte den Dialekt so sehr angenommen, dass ich mich bewusst erinnern musste, dass wir einst eine Sprache sprachen. Dass wir gar einst ein Zuhause teilten, einen Tisch, eine Badewanne, einen Garten, einen Kletterbaum, ja eine Mütze gar und natürlich diverse Nachbarn. Dass wir jahrelang gemeinsam gefrühstückt hatten – ich erinnere mich an keinen Morgen bewusst, jedoch an viele Abende und noch mehr Nachmittage. An zerschnittene Frisuren – Werk einer der gemeinsamen Nachbarinnen. An gemeinschaftlich verhasste Mittagsgerichte (Gott, wuchsen in unserem Garten viele Zucchini!) und gemeinsame Ferien auf Schweizer Bergbauernhöfen.

Sie trägt ihr Haar jetzt kurz und ihr Freund arbeitet mit Buchstaben. Ich freue mich sehr, dass ihr Lächeln noch das von vor 20 Jahren und ihre Haare dunkel wie eh und je. Je mehr Regen fällt, umso dunkler, umso nasser wir und umso schneller unsere Füße; weit müssen und wollen wir nicht, nur reden, ganz viel und am liebsten 20 Jahre vor und wieder zurück und dann noch zur Zukunft und auch von dir. Du, der du sie damals nur kurz kennengelernt und uns in einem Bild festgehalten hattest wie nur du das kannst. Du, der du die Menschen mit einer Offenheit umarmst, die mich immer wieder staunen machte.

Und dann muss sie los, zur Bahn, und ich nach Hause und Berlin endlich in diesen Juni, der furchtbarer wurde, als ich es mir je hätte ausmalen können.

Geschwister

Der Satz des Poseidon

Er fühlte sich pubertär, so liebevoll die Zweifel gehätschelt, so intensiv die Wangen nach erhofften, aber eben doch nicht sprießenden Bartstoppeln abgetastet. So mürrisch den Tagen in ihre jugendlichen Gesichter geblickt, von schräg rechts unten mit unverhohlener Skepsis, das eigene Kinn dazu fast an die noch immer gänzlich unbehaarte Brust geschmiegt. So ohne Verlass die eigene Stimme bei den doch sowieso schon selten gegeben Stimmproben, mal fisteliger Sopran, mal rumpelnder Bass, so geruchsintensiv die eigenen Achseln.
Er wollte die Welt, den Himmel, unendliche Schokoriegel, und nicht etwa das trockene Stück Brot, nicht die zwölfstellige Pin einer weiteren Chipkarte oder die Zusatzversicherung für etwaigen Zahnbelag. Er hatte das ihn mit Schwertstichen an seine Existenz gemahnende Bedürfnis nach in seinem Ohr sich umarmenden Landschaftpanoramen, nach rauschengelnder Nacktheit samt Federboa, nach jegliche Wut vernichtender Sanftheit. Und mehr als alles fürchtete er dieses unkontrollierbare Fluten der emotionalen Hormone oder wie immer das hieß.
Er ist ein Bruder der romantischen Verlierer und lächelt das über die Jahre unentbehrlich gewordene Pathos Sonntag für Sonntag nach dem Tatort in sich hinein. Das Pferd ist ihm, Bruder des Hades, heilig, Kühe hingegen schlachtet er mit Wollust, verzehrt sie, mit jedem Bissen rohseidene Blutfäden zwischen den Lefzen züchtend. Allerdings nur bei Nebel und auch dann nebst Knoblauchsauce extra dry, für den obligatorischen Durst danach stehen schließlich Ozeane bei Fuß. Den geborgten Dreizack unterm Kopfkissen, wird wenn dann sauer geweint, ansonsten hörbar geschlafen. Heute wie damals zurecht.