Gedanken

Die Kunst der Mäander

Mäander | © Anne Seubert
Mäander am St Bernadino Pass, Schweiz

Die Kunst des Mäanderns hat mich der Alt-Rhein gelehrt, wie er mit seinen Armen das Markgräfler Oberland an der Hand nimmt, führt, verführt und nährt. Wie sich seine Arme in die Landschaft schmiegen und sie gleichsam hervorbringen: Die moorige Petit Camargue im südlichen Elsass, Auengebiet und Relikt des einstigen Urwalds am Rhein, und das erste Naturschutzgebiet des Elsass (1982!) war für mich als Kind nicht nur Inbegriff des Mändertums, ohne das ich das Wort auch nur kannte, sondern auch Landschaft gewordenes Märchen. Es schwangen die Camargue Cowboys Südfrankreichs ebenso mit wie die Seeungeheuer, die man in Sümpfen immer zuerst vermutet. Exotik in Fauna und Flora und der Geruch, der aufstieg, sobald man einstieg, trugen meine kindliche Fantasie in ferne Welten. Sie lehrte mich Schönheit jenseits von Symmetrie und ein Aufgehobensein in der Natur.

Ein Wort birgt tausend Bilder, ein Ziel tausend Wege

Im Lexikon steht Mäander käme von griechisch Meandros. Man definiert die Mäander als Kurven und Schlingen, die viele Flüsse im Mittel- und Unterlauf oder in Durchbruchstälern aufweisen. Für mich ist das Verb Mäandern ein Wort wie ein Roman mit vielen Kapiteln, Zwischenüberschriften, Fußnoten und Kapitelbändchen. Sie waren immer etwas unheimlich diese Arme des Altrheins, trotzige Out-Laws, deren Schönheit ungekämmt daherkam, unbezähmbar ihre Kraft und unwiderstehlich. Sie waren Tulla entkommen, der aus dem Rhein eine Gerade formen wollte, hörten wir im Geografieunterricht, und in dem Stolz über diese menschliche Großtat, schwang die Scham darüber mit, dass ein solches Vorhaben der Natur gegenüber durchaus übergriffig war.

Die Schlingen würden sich von mir nicht zähmen lassen. Als ob ich das wollte! Im Gegenteil, ich wollte entzähmt werden. Ich wollte stromern und streunern, verloren gehen und münden, wo ich nie zuvor vorbeigekommen war. Ich wollte Geheimnisse lüften und Lichtungen bergen, ich wollte mäandern und ging ohne Zettel, ohne Stift, ohne Kamera, ich ließ mich durch die Landschaft treiben, wissend, ich käme irgendwann irgendwo an.

Wo der Fluss langsamer fließt, lädt er seine Last aus Geröll ab, schreibt das Lexikon weiter. Das hat etwas Laszives  Nonchalantes. Ob das bei Menschen auch so ist? Lagern wir, wenn wir langsam uns durch das Leben bewegen, eher Geröll ab? Wenn wir schleichen, fasten, stehen bleiben, fällt es uns dann leichter, aufzuräumen, auszudünnen  abzubauen? Lässt es sich leichter Gewicht verlieren, wenn wir ruhen?

Lange schon nicht mehr hatte die Gegenwart eine solche Präsenz, wie in diesen Zeiten, in denen wir gezwungen sind, uns aufmerksamer als gewohnt mit dem Jetzt und Hier zu beschäftigen, unsere Routinen zu hinterfragen, unser Framing neu zu justieren, unseren Horizont abzustauben und unsere Vorurteile und Gewohnheiten auszumisten. Manch einer mistet tatsächlich den Keller aus, andere eher die To-Do-Liste und ein dritter löst sich vielleicht tatsächlich von ein paar Kilogramm Eigengewicht. Vieles aber geschieht im Kopf, für die Augen unsichtbar, wie der kleine Prinz angemerkt und ins nationale Poesiealbum vermerkt hatte.

Ä wie Mäander

Ob ich den Begriff mäandern so liebe, weil es ein Wort mit dem Umlaut Ä ist, wie das Zähmen, das Märchen, die Wähe – alemmanisch für Weihe, also eine flache, nur dünn belegte und nur zaghaft gesüßte Obst-Tarte –, und die Zärtlichkeit? Vermutlich auch. Mäander als Substantiv war mir bis zur Lektüre von Drüben und Drüben von Jochen Schmidt und David Wagner allerdings gänzlich unbekannt. Und wo wir bei regionalen Besonderheiten sind, im Alemannischen gibt es einen weiteren Begriff für kurvenreiche Bewegungen: Ringelegängele. Auch mit Ä-Umlaut. In einer anderen Tonart gehalten, ruft es andere Assoziationen hervor: Das unsichere Schlangenlinien fahren eines Fahranfängers mit dem Fahrrad, die argumentativen Ausweichmanöver einer unausgegorenen Rechtfertigung, das lustvolle Kurven um gesuchte und gefundene Hindernisse. Letzteres kommt dem Mändern vielleicht am Nächsten und doch unterscheidet sie in meiner Wahrnehmung das Tempo, die Energie und nicht zuletzt die Kompetenz. Mäandern ist keine Frage fehlender Expertise, die Mäander ruht in sich, nimmt nicht mehr Hindernisse als nötig auf ihre Schulter, Go with the Flow, quasi.. Ich möchte es genauer wissen.

Mäander ist die Bezeichnung einer Flussschlinge in einer Abfolge weiterer Flussschlingen, wie sie sich in unbefestigten Fließgewässerabschnitten mit sehr geringem Sohlgefälle und gleichzeitig transportiertem, fein-körnigem Geschiebe auf natürliche Weise bildet. Entsprechende Flussabschnitte werden als mäandrierende Flüsse bezeichnet. Mäander greifen mit der Zeit durch Erosion an der Kurvenaußenseite (Prallhang) und Sedimentation an der Kurveninnenseite (Gleithang) immer weiter seitlich aus, bis es an den Enden der Schlinge zu einem Durchbruch kommt. Danach wird der Mäander zum Altarm und verlandet schließlich.

Die Intensität des Mäandrierens eines Fließgewässers hängt von der Beschaffenheit des Untergrundes und der Fließgeschwindigkeit ab. Als einfaches Maß dient das als Sinuosität bezeichnete Verhältnis von Gewässerlänge zu Luftlinie. (Quelle: Wikipedia)

Und ob ich noch mäanderte in tiefster Nacht

Mäandern ist auch: Luxus, ist Zeit und Muße und Hingabe. Ist Gegenwartsbewältigung und Prozessvertrauen. Und ob ich noch mäanderte in tiefster Nacht, so hast auch du mich getragen, Weg, der du im Gehen entstehst. Wer mäandert, der möchte nicht ankommen, jedenfalls nicht sofort, der möchte unterwegs sein, der hat die scenic route gewählt, Effektivität in die Fußnoten verfrachtet und die Stechuhr entmannt. Mändern ist die Zeit des Werdens und Gedeihens, des ewigen Kommens und des Vergehens. Ein Werk, das unentwegt entsteht, das nonfinito zum default-Modus verlangt. Wer mäandert, zieht Kurven der Geraden vor, misstraut rechten Winkeln und Abkürzungen sowieso.

Wer mäandert ist bereit, in das Königreich der Serendipity eingeführt zu werden, vom Zufall vom Wege abgebracht und auf Schleichwegen und Trampelpfaden in ein Dickicht überführt zu werden, in dem keine Karte, kein Maßband, kein Kompass von Nutzen, nicht dass es ein Ziel gäbe, auf das man ihn einnorden wollte. Wer mäandert scheut nicht den Weg, er sucht ihn nicht, er nimmt ihn nichteinmal als solchen wahr – welcher Weg sollte das auch sein? Es ist eine Folge von Schritten über zum Teil reichlich unwegsames Gelände, man verliert die klassische Orientierung – wo komme ich her? War ich hier schon einmal? Kommen wir voran? – stattdessen lässt man sich ein, fühlt sich ein, hört sich ein, sieht sich ein und beschreitet solchermaßen Abwege. Nicht nützlich, sondern reich, nicht zielführend, sondern nährend, nicht abkürzend sondern ausbreitend.

Wer mäandert, wagt und gewinnt vor allem an Einsicht.  Das ist heute unerlässlich, war es immer, möchte man meinen. Im Philosophischen Radio auf WDR 5 verabschiedet uns der Moderator Volker Wiebecke am Ende jeder Folge komplizenhaft mit “Grübeln Sie nicht zu viel!”.  Wer mäandert gerade nicht gedanklich im Konjunktiv de ein oder anderen Entscheidungsprozesses?

Wer mäandert, probiert aus, mal linksherum, mal rechts herum. Wer mäandert hat Proviant dabei, er weiß, es kann nicht nur, es wird länger dauern. Der Mäanderer ist nicht und auch seine Motivation ist nicht abhängig vom Ankommen, er lernt gern dazu. Wer mäandert braucht seine Zeit – nicht die, die von äußeren Umständen vorgegeben wurde – und kommt selten als der an, als der er losgezogen ist. Wer mäandert, nimmt die Sache ernst, den Weg und gibt sich selbst dazu, als Gast und Gastgeber, passiv und aktiv zugleich. Wer mäandert, ist großzügig. Es lässt sich gut ausufernd denken beim mäandern. Es lässt sich gut mäandernd denken, ausweichen, einweichen, ausholen, einholen. Es lässt sich gut mäandernd traumwandeln. Es lässt sich schlecht Recht haben aber unabdingbar sind Zeit und leere Hosentaschen.

Land in Sicht?

Berühren sich zwei benachbarte Flussschlingen, bricht der Fluss durch und fließt künftig durch die Abkürzung. Zurück bleibt ein bogenförmiger Altarm der nicht mehr durchflossen wird. Von den sogenannten freien Mäandern der Schwemmebenen zu unterscheiden sind Talmäander. Dies sind tief eingeschnittene, windungsreiche Flusstäler, die in ihrer Gestalt den Mäandern frei fließender Flüsse ähneln.

Mäandern ist wiewohl beim Fluss, der irgendwann in einem Delta mündet oder ganz verlandet, nicht unbedingt eine Einzeldisziplin. Auch hier gilt, eine einzelne Flussschlinge ist noch keine, erst die Aneinanderreihung von Kurven, erlaubt die Definition als Mäander. Je kurvenreicher das Flussbett, umso schöner der Anblick in der Totalen, da ähnelt sie der Spur des eben noch den Hang anmutig hinab schwingenden Tiefschnee-Fahrers am Hang.  Sein Rhythmus bestimmte die Kurvenlänge, die Steilheit ihre Enge. Obgleich mäandernde Flüsse nicht am Steilhang zu finden sind, so legen wir Menschen an Bergen sowohl für Auf- wie für den Abstieg sogenannte Serpentinen an, Schlangenlinien, die uns die Steigung leichter meistern lassen, am besten ohne außer Atem zu kommen.

Das Bild lässt sich in komplexe Denkaufgaben übertragen. Hier lohnt sich die Form der Mäander um die Ebenen abzutragen und das Gebiet auszukundschaften, Nebengedanken nachzuspüren und verschiedene Szenarien auszugestalten, gerade bei der Recherche und Analyse von Problemstellungen als Part der kreativen Arbeit ist Mäandern von unschätzbarem Wert. Die Abkürzung direkt zum Gipfel wäre ungleich unvollständiger, würde uns ohne umfassende Kenntnis der Lage, ohne die gedankliche Weite der Möglichkeiten belassen. Erst der Marsch durch das Unterholz, das Erklimmen der Böschung, das Lauschen des Rotkehlchens lässt uns hernach die Verknüpfungen klöppeln, die unsere bisherige Sicht der Dinge alternativ werden lassen. Gleiches gilt für die Kreation von Lösungsmöglichkeiten, Innovation und neuen Strukturen und Prozessen.

Mänder à deux

Mäandern lässt sich wunderbar gemeinsam, Arm in Arm oder im Gespräch. Nicht ohne Grund nannte Rilke die schöne Mäander in seinem Sonett an Orpheus als konstituierenden und vermissten Teil der Freundschaft:

XXIV. Sonett

Sollen wir unsere uralte Freundschaft, die großen 
niemals werbenden Götter, weil sie der harte 
Stahl, den wir streng erzogen, nicht kennt, verstoßen 
oder sie plötzlich suchen auf einer Karte? 

Diese gewaltigen Freunde, die uns die Toten 
nehmen, rühren nirgends an unsere Räder. 
Unsere Gastmähler haben wir weit -, unsere Bäder, 
fortgerückt, und ihre uns lang schon zu langsamen Boten 

überholen wir immer. Einsamer nun auf einander 
ganz angewiesen, ohne einander zu kennen, 
führen wir nicht mehr die Pfade als schöne Mäander, 

sondern als Grade. Nur noch in Dampfkesseln brennen 
die einstigen Feuer und heben die Hämmer, die immer 
größern. Wir aber nehmen an Kraft ab, wie Schwimmer. 

Rainer Maria Rilke, aus: Die Sonette an Orpheus