Gedanken

Kummer mit Aussicht

Reispapiern möge meine Haut binnen Minuten zu Segeln werden. Poren teerend, aus dem unverdienten Weiß ein ehrliches Schwarz werden lassen, ewiges Pech verkündend. Malerisch tragisch möge jeder Augenblick hereinbrechen über den Leib, über die Sehnsucht ein Mensch zu werden. Die Lächerlichkeit nehmend, am Leben gescheitert zu sein.

Oh Pathos ich hör Dir trapsen, doch Du trapst zu langsam. Dies eine Mal bin ich schneller, lasse ich mir nicht das letzte Wort, lasse mir nichts als die leibliche Hülle, die ich all die Jahre vergeblich geschändet: Sie wird doch das Letzte sein, das von mir bleibt. Sie und nicht etwa manikürte Gedanken, sie allein bar aller inneren Werte.

Leise und doch ohrenbetäubend, zumindest aber mich betäubend, des Bewusstseins berauben. Den Ruhepuls der Nullstelle entgegentreiben, der Sprache die Stimme, dem Ohr das Gehör und dem Hirn seine Zellen stehlend. Hufnageldick mindestens.

Vor allem eindeutig aber müsste es sein, nichts halbherziges, zögerliches endlich mehr. Jung, dynamisch, erfolgreich. Nicht der Versuchung eines Adieu erliegen und vorher überflüssiges Gewicht loswerden, damit es die Träger nicht unnötig schwer haben. Ebenso das Who-is-who ausdünnen, zwielichtige Gestalten daraus entfernen, und die Adressen der Einzelnen leicht zugänglich und in Druckbuchstaben verwahren.

Vielleicht sollte man aber auch einfach häufiger nach Patagonien reisen. Reisen vergrößert die Chance auf Ankünfte ungemein. Es sättigt Sehnsüchte, verzärtelt Rastlosigkeiten und entwendet der Leere geflissentlich die Aufenthaltsgenehmigung. Nur vorübergehend, schließlich zahlt das Heimweh gut für das Papierchen, sei es nun aus Reis oder Holz.

Gedanken

mnemosynon – nottoforget

Es gibt viele Menschen, die bauen Industrieanlagen, bezirzen Renditen und verkaufen Immobilienbecken. Die reden von Profiten, messen sich an der Steuer und arbeiten auf Wachstum und Maximierung von Umsatz. Die tragen Anzug und Krawatte und einen gezirkelten Seitenscheitel.
Es gibt aber durchaus auch Menschen, die tragen stolz einen Kopf voll ungezähmter Locken und bauen Drehorgeln. Solche mit Knödel fressenden Holzfiguren, und welchen die nach goldenen Kugeln tauchen zu sich ewig wiederholenden Melodien. Solche Menschen wohnen manchmal nahe einem Storchengehege in einem blauen Haus. Na gut, das Haus ist weiß und nur die Fensterläden sind dunkelblau.
So ein Mensch ist mein Bekannter H. seit vielen, vielen Jahren. Und seit ebenso vielen hat er seine Werkstatt direkt neben dem Haus, zusammen mit seiner Frau S. die ihm, 20 Jahre jünger als er, zwei Söhne gebar und ansonsten aus Berufung schreinert. S. hat ein Lächeln, das sprudelt nur so vor Schalk und mit diesem auf den Lippen versendet sie Einladungen zu Mottoparties zum Thema Weltraum, spielt absurdes Theater und schnitzt.
H. und S. teilen viele Aspekte des Lebens mit Genuss, eine Leidenschaft aber hat H. allein: Weihnachtsgebäck. Jedes Jahr aufs Neue leidet er unter dem zu rasch aufgezehrten, nie in ausreichenden Mengen vorhandenen Süßgebäck, das nie bis Heiligabend vorhält. H. musste allerdings 64 Jahre alt werden, bis es ihn dieses Jahrendgültig packte und er eine Annonce in der örtlichen Presse aufgab. Er teste selbstgebackenes Gebäck und stelle den Bäckern auf Wunsch Zertifikate mit seinen Ergebnissen aus, man müsse ihm die Kekse nur vorbei bringen.
Es gibt übrigens auch Menschen, die kommen, Dir eigentlich noch vollkommen unbekannt, zwischen zwei Tagen reingeschneit und werfen Dir ungefragt Sterne in den Nachmittagskaffee. Solche Menschen sind Einzelgänger, bewegen sich auf nur für sie sichtbaren Linien durch den Kosmos und zielen direkt aufs Herz. Da wird Dir ein Finger auf die linke Wange gelegt, der Deine Lippen sich vor Vergnügen kräuseln macht und der Mensch krempelt ungerührt die Ärmel hoch und verbindet mal eben den Morgen mit dem Vorgestern, das Mittagessen mit dem Nachtgebet und den Vorfilm mit der Aftershowparty. Er verdoppelt Dein Lächeln, verbreitert den Sonnenstrahl und potenziert dessen Steigungsdreieck en passant, dass sämtliche Apokalypsen sich blitzartig unter die X-Achse flüchten.

Manchmal vergesse ich, dass es solche Menschen gibt.