Gegenwart

2019: Ein Jahr ohne Legende

An dieser Wand übe ich nur |  © Anne Seubert

Das Jahr 2019 hatte es nicht nur faustdick hinter den Ohren, es hatte zwei Buchstaben zu viel. Es war das Jahr der Hotellobbies, der Wartezimmer und Regionalexpresse. Meine heimliche Liebe Österreich wagte einen zweiten Versuch und ich konnte einer Taufe nicht widerstehen. Es war das Jahr der Berge, Seen und Talfahrten, der Spiegelneuronen, der Auferstehung und des Lichts.

Januar: 
Im Januar ging ich in die Knie und mindestens einmal zu oft an den Ku’damm. Ich lernte, dass die Dunkelheit auch Dunkles bergen kann. Dass Erinnern viel mit dem Inneren zu tun hat und dass selbst in der tiefsten Kniebeuge Menschen Lieder für mich singen. Ich wagte den Blick zurück und in den Spiegel.

Februar:
Im Februar ging es nochmal tief in den Stollen, aber auch nach Tel Aviv und zurück auf Los. Nun denn, Nullstellen wohnte schon immer eine Magie inne, diese hatte allerdings mindestens zwei Kommastellen hinter dem Komma offen und ich musste mich entscheiden.

März
Im März besuchte ich die Perle, entdeckte die Bilder einer großen Liebe im Thalia Theater. Die ersten Schritte fühlten sich noch an wie Wackelpudding, aber ich wollte nicht nur gehen, sondern tanzen und mein Wille macht seit jeher seine eigene Agenda.

April
Im April dann kam der Bruder zu Besuch, Rio Reiser lockte mich auf eine Bühne vor 700 Leute und ich gönnte mir Kultur satt. Unter anderem die Gauthier Dance Company:

Mai
Im Mai wagte ich mich langsam wieder unter echte Menschen und auf einen Geburtstag. Ein denkwürdiges Erlebnis, unter anderem weil ich noch in der Nacht nach Bordeaux aufbrach. Dies eine gute Entscheidung, die mir Frankreich, den Wein und das Leben wieder näher brachte! Ich schrieb über den Zorn  und nahm mich dem Wedding und meiner rechten Hüfte an.

Juni
Im Juni begann der Sommer, den ich nicht in Berlin verbringen wollte. Und so reiste ich gen Süden ab, Heimat hiess das Ziel und Fragen hatte ich reichlich im Gepäck. Mit Erleichterung und Käse kam ich zurück, Maître Antony sei Dank. Die Reiseroute nahm Form an.

Juli
Im Juli setzte ich mich endgültig aufs Land ab: Brandenburg machte es mir leicht und schwer und sorgte vor allem für genügend Abstand zum Großstadtgeflüster. Ich schlief viel, schaffte es endlich nach Beelitz und wusste irgendwann nicht mehr, ob Fisch oder Fleisch. Wie konnte Ecuador so nah kommen?

August
Im August dann rief der Südschwarzwald meinen Namen und ich beschloss, Urlaub wörtlich zu nehmen: in einen See zu springen, Brombeeren zu pflücken, einen Berg zu besteigen und mich neu zu erfinden. Eine gute Idee, denn zurück in Berlin wurde es ernst. Die Arbeit nahm sich ihren Teil und ich mir einen neuen Tanzpartner. Säälchen rules, by the way, nicht nur für 18. geburtstage aber für die ganz besonders! Ich bekam ein Paar Schuhe geschenkt.

September
Vienna Calling? Wien hatte schon einige Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen und im September nahm ich die Sache in die Hand, blätterte  mein Adressbuch durch und verabredete mich quer durch die Stadt von Burgtheater über Kaffeehaus und Schwimmbad bis zum Kulturwissenschaftlichen Institut. Cafe Prücker, Wien | © Anne Seubert


Bevor der Herbst Einzug hielt hatte ich der Pflanze Mensch neuen Boden geschaffen. Nun hieß es, den Samen aus sich raus zu locken. Bei den Creative Mornings Berlin durfte ich mit meiner großen Zahlenliebe auf die Bühne und kürte die 9 als Favorite. Ich verschenkte zwei Leben und endlich auch wieder Vertrauen.

Oktober
Der Oktober gehörte fast ausschließlich Berlin, den Frauen und der Kultur. Ich las, was ich zwischen die Finger bekam und genoss Berlin aus dem Zuschauerraum. Auch die Arbeit bekam ihren Anteil, denn zwei meiner Projekte eiferten ihrem Höhepunkt entgegen und schönerweise merkte ich, wie die Kräfte zurückkamen auch wenn der Winter näherrückte. Görlitz stellte Fotografien von mir aus und ich gönnte mir noch einen Abstecher in die Rhön, ein Landstrich mitten in Deutschland, der mir bisher entgangen war. Warum eigentlich?

November
Im November kam plötzlich doch alles auf einmal. In Bayern wurde Gast gegeben, in Berlin das Sony Center illuminiert und zwischendrin ich und ein Lächeln, das sich langsam aber sicher breit machte. Draussen wurde es kalt und dunkel, ich hatte vergessen, wie sehr, und wünschte mir spontan zu Weihnachten eine Winterjacke. Neue Projekte klopften an, Salzburg wollte erkundet werden und lud zu einem Soulcircle.

Dezember
Der Dezember 2019 begann mit einem Geburtstagsfest an Rotwein, führte mich an meine Grenzen und charmant darüber hinweg, in den Schoß meiner Familie, durch fünf Länder, unters Messer – und er endete mit Champagner. Das erste Mal Mallorca erwandert, das erste Mal Unterwäsche verschenkt, das erste Mal im Kloster…

…und damit zum Jahresendzeitfragebogen, wie schon zu den Jahren 2013, 2014 und 2016 2017, 2018.

ENDZEITFRAGEN:

Mehr bewegt oder weniger?
Mehr. Tatsächlich auch mal wieder auf Skiern, wenn auch erst am vorletzten Tag. Wandern als Fortbewegungsart entdeckt.

Der hirnrissigste Plan?
Zugleich der Beste.

Das leckerste Essen?
Kaffee im Bett.

Die meiste Zeit verbracht mit …?
Mir.

Die schönste Zeit verbracht mit …?
Euch.

Vorherrschendes Gefühl 2019?
Halleluja!

2019 zum ersten Mal getan?
Unter anderem: In einem Kloster zu übernachten. Hypnotisiert zu werden. Auf einer Bühne zu singen.

2018 nach langer Zeit wieder getan?
Auf die Knie gegangen. 70 Seiten am Stück geschrieben.

Drei Dinge, auf die ich gut hätte verzichten können?
1) Die Wucht der Erkenntnis.
2) Der Krebsverdacht.
3) Die Unsicherheit vor dem Sprung.

Die wichtigste Sache, von der ich jemanden überzeugen wollte?
Die Wahrheit über die Ruhe zu stellen.

Das schönste Geschenk, das ich jemandem gemacht habe?
Konnte ich leider noch nicht übergeben.

Das schönste Geschenk, das mir jemand gemacht hat?
Dauerte 10 Stunden und eine Falafel.

Der schönste Satz, den jemand zu mir gesagt hat?
Ich packe meinen Koffer…

Der schönste Satz, den ich zu jemandem gesagt habe?
Ja, bitte.

2019 war mit einem Wort …?
Das Jahr 2019 hatte es nicht nur faustdick hinter den Ohren, es hatte zwei Buchstaben zu viel, schrieb ich einleitend. Ja, 2019, gut, dass du da warst, gut dass du gegangen bist, gut, dass ich gegangen bin.

Gegenwart

… und zähle bis bald.

Bratkartoffel | © Anne Seubert

In deine Waagschale leg ich
meine Hoffnung aufs Meer,
mein schüchtern lispelndes Hirn,
die siebzehn Zähne, die ich
dem Leben im letzten Winter schon zog.

In deinen Blick leg ich
die Löwin bei Sonnenaufgang,
den Fluß hinter der Biegung Gottes,
sein Werk, der sieben Weltmeere Schoß und
meine fliehenden Brüste.

In deine Zukunft leg ich
die Rettung des letzten Worts vor Zeilenende,
die Furcht vor Ehre und Ankunft,
mein Riesenrad, die nächste Runde, den Wetterumschwung,

und zähle bis bald.