Gestern

Hemmungen

Drei war ich, höchstens fünf und meine Mutter mal wieder hatte keine Zeit. Also brachte er mich zum Kindergarten, das kam schon mal vor. Er hatte ein grünblaues Fahrrad und ich durfte auf die Stange sitzen, im Damensitz. Entweder waren wir wirklich spät dran oder es kümmerte ihn einfach nicht, jedenfalls überfuhren wir bewusst eine rote Ampel, ich weiß heute noch welche und wie es sich angefühlt hat weiß ich auch noch. Die kurze Enttaktung des Herzrhythmus, die zwei Nuancen, die das Rot meiner Wangen röter wurde und das innerliche Jauchzen, als wir über die Bordsteinkante rumpelten. Ich fühlte mich Jahre älter.
Viele seiner Platten starben unter meinen Händen, zu reizvoll die Nadel und zu sensibel das Vinyl. Mir dagegen fehlte jedes Feingefühl, ich zerkratze Stones und Cleerwater, Hoffmann und Scherben. Eingeprägt hat sich mir dafür der Watzmann, den er oft nachts zum Einschlafen hörte, unverständlich für mich, die ich vor lauter Gruseln das Kopfkissen aufs Ohr drücken musste. Zugegeben hätte ich das selbstverständlich nie, zu aufregend war es, in sein Bett kriechen zu dürfen und in Erwachsenen-Bettwäsche zu kuscheln. Und erst recht am morgen vom Qualm seiner ersten Gauloise geweckt zu werden. Eklig und faszinierend zugleich.
Gut zehn Jahre später war er der erste Mensch und erst recht der erste Mann, der mich auf dem Klo sitzend überraschte, weil ich vergessen hatte die Tür abzuschließen. Es war furchtbar peinlich, ich erinnere mich dunkel und ich konnte ihm einen halben Tag nicht mehr ins Gesicht sehen. Ich aß sogar das weichgekochte Ei, das er mir zum Frühstück gekocht hatte, obwohl ich nur wenig ekliger als das Geglibber finde. Nur damit ich nicht mit ihm reden musste.
Als ich vor wenigen Jahren 20 Kg schwerer und 30 Pickel reicher vor seiner Tür stand, erkannte er mich ohne Zögern wieder. Sein Lächeln war breit wie eh und je und sein Vorname mir immer noch ein Rätsel. Er kochte mir Nudeln mit Soße, unser damaliges Donnerstagsgericht und rauchte zwischen den Geschichten Kette. Sein Haar war grauer, sein Gesicht runder, seine Umarmung nicht schwächer.

Und heute hab ich blöde Nuss mich nicht getraut bei ihm zu klingeln.