Gestern

Osterweiterung

„Hochwohlgeborener, Hochgeehrtester Herr!

Hindernisse der verschiedensten Art haben es bisher fast unmöglich gemacht, Ihren geehrten Brief zu beantworten. Im Jahre 1852 hatte ich einmal Veranlassung Gauß über den Sie vorzüglich interessierenden Gegenstand zu befragen; er sagte mir bei jener Gelegenheit, dass die Form der in Rede stehenden Koordinaten zwar ein spezieller Fall der in seiner Preisschrift gegebenen Projections-Methode sei, doch aber ihr Eigenthümliches habe, und dass es für ihn selbst eine beträchtliche Zeit erfordern würde, den Weg, der darauf führt, wieder aufzufinden. (…) Indem ich bitte, die Kürze meiner Mittheilung nicht übel deuten zu wollen, unterzeichne ich mit vollkommener Hochachtung Ew. Hochwohlgeboren
Ergebenster
W. Klinkerfues, Dr. phil. Göttingen, den 7. Juni 1855“*

Jener Herr Paschen war nicht nur Direktor der Sternwarte Altona, er vermaß mit Leidenschaft die Ostseeküste Mecklenburgs auf trigonometrischer Grundlage, dabei hatte er eigentlich einmal Jura studiert. Wohl vorzugsweise von Kirchtürmen aus, nahm er seine Vermessungen vor, und fand, die Spitze des Hauptturms des Schweriner Schlosses als Nullpunkt nutzend so zum Mecklenburgischen Koordinatensystem. Mithilfe der im Brief erwähnten Gauß’schen Formeln – Paschen hatte bei Gauß persönlich Physik- und Astronomie-Vorlesungen besucht, konnte eine Verbindung Mecklenburgs zu den Sternwarten Altona und Berlin hergestellt werden. Das bedeutete nicht weniger als den Anschluss Mecklenburgs an die wichtigen astronomisch bestimmten Punkte Europas.

Dem oben in weiten Teilen zitierte Brief – er ist im Original nur unwesentlich länger, keine drei Zeilen ehrlich gesagt – lag übrigens ein sich schließlich als ungerechtfertigt herausstellender Vorwurf gegenüber Paschen zu Grunde, sich unverdientermaßen mit Gauß’schen Erkenntnissen geschmückt, beziehungsweise vermittels ihrer Hilfe einen Wettbewerb gewonnen zu haben.

*Brief des Herrn Klinkerfues (Astronom, 1827 – 1884) an Herrn Paschen (Geodät und Astronom, 1804 – 1873)

Gestern

Chlorjungfrau

Mitunter tut es gut und not, die Ohrmuscheln voll chlorifiziertem Wasser laufen zu lassen. Dass dabei auch der Restkörper nass wird – tanto faz. Im Gegenteil, ganz bedeckt wird es am eindrücklichsten leise, leiser, aber nicht lautlos. Mehr schallgedämpft, weichgespült, schutzgepolstert. Und während sich die Ohren hinter meterdicken Wassermauern einigeln auf dass die Welt in einer gefliesten Stille versänke, pocht das Herz doppelbödig weich von innen gegen die Schädeldecke. Das Herz gibt den Rhythmus vor, Paukenschläge samtig warm, alles andere verstummend lassen. Der Grundbass als Inspiration für eine tonlose Melodie aus Stillen unterschiedlicher Qualität. Und gleichzeitig wird jede Bewegung, jeder zu schnell gedachte Gedanke nur, Ton, bekommt eine Klangfarbe, einen Hall, zuweilen gar einen gehauchten.
Nach Minuten erst ist das Ohr ausreichend genau auf Stille geeicht, dass Nuancen wieder hörbar werden. Innen wie außen gibt es Anklänge zu erlauschen, wellenförmig an das Außenohr herangetragen, von der Muschel dann sachte ins Innenohr weitergegeben. Luftbläschen kitzeln die drohende Ruhe hinfort, es soll ja gehört werden, nicht geschlafen. Abgedämpft durch das Wasser schon und nur mehr promillehaft Vibrationen aussendend, werden Schall und seine Signale von Gehörknöchelchen dankbar empfangen. So raunen muskelrelaxierende Sinuskurven durch die Gewölbe, Gang für Gang erobernd, und den angrenzenden Leib Muskel für Muskel in die Knie zwingend. Rein metaphorisch versteht sich, eigentlich geht es eher um sich ausdehnende Muskeln, Fasern zerplätschernde Sogwirkungen und verführerische Schwere, ganzheitlich.
Das arhythmisch strampelnde linke Bein meines Vordermannes schlägt da viel zu hohe Wellen, als dass ich sie ignorieren könnte. Es überwindet mühelos sämtliche Schallschnellen, tönt blechern mir von der Hektik des Alltags. Und schon bin ich wieder hellwach und in Habacht, weiche Wellen aus, die eben noch sanft-freundlich mein Gehör liebkosten und meine Haut gleichermaßen umschmeichelten. So kraule ich denn auch was das Zeug hält einer Dusche entgegen, die, Schleuse zwischen tiefer See und trockenem Land, mir den Chlorsand aus den Poren spült.