Gemäuer

Verflechtungen: Im Vertrauen auf das Dazwischen

I. Die stille Allianz der Elemente

Nicht Alge, auch nicht Pilz allein,
Nur beider enge Partnerschaft.
Ingo Baumgartner

Auf den ersten Blick sind sie unscheinbar: kleine Krusten, graue Polster, zarte Fäden auf Baumrinden und Steinen. Und doch gehören sie zu den ältesten und beständigsten Wesen der Erde – die Flechten: Nicht Pflanze, nicht Pilz, sondern eine Symbiose zweier Lebensformen: eines Pilzes, der schützt, und einer Alge, die nährt. Zusammen bilden sie ein Drittes, das mehr ist als die Summe seiner Teile.
Diese Verbindung gedeiht dort, wo das Leben karg ist – auf Felsen, Dächern, im Hochgebirge oder in der Antarktis. Sie leben von Luft, Licht und Staub. Sie atmen Kohlendioxid aus dem Wind und verwandeln es in Sauerstoff. Sie sind zäh, geduldig, widerständig – und zugleich empfindsam: Wo die Luft schlecht ist, sterben sie. Ihr Dasein verrät uns, wie es um die Welt um uns bestellt ist. (Dazu Deutschlands erste Moos-Professorin Julia Bechtele gerade in der taz: “Moose sind unglaublich schön und spannend!)
In ihrer stillen Beharrlichkeit erzählen Flechten von einer Lebensform, die nicht auf Wachstum, sondern auf Beziehung gründet. Von einem Füreinander der Natur.
Sie schützen, nähren, verwandeln. Sie sind Hüterinnen der Oberfläche, Wächter der Zeit. Wenn sie Felsen überziehen, dehnen sie sich mit dem Regen, schrumpfen mit der Sonne und bereiten so den Boden für Moos, für Gräser, Sträucher, Wälder. Sie sind Anfänge.
In dieser engen Partnerschaft spiegelt sich ein Prinzip, das weit über die Biologie hinausweist: Leben entsteht im Zusammenspiel. Nicht im Alleinsein, sondern im Ineinander.

II. Flechten als Text – das Denken im Geflecht

Das lateinische texere – „weben, flechten“ – ist die Wurzel von Text und Textil.
Schreiben ist ein Flechtvorgang: aus Gedanken, Erinnerungen, Bildern. Wie beim Flechten von Weidenruten überkreuzen sich die Stränge – der Satz biegt sich, die Idee windet sich, das Denken nimmt Form an.
Ein Text ist kein starres Gebilde, sondern ein lebendiges Gewebe. Zwischen seinen Fäden schimmert, was nicht gesagt werden kann: die Zwischenräume, das Unausgesprochene, das, was durchlässig bleibt.
Das Schreiben gleicht dem Wachsen der Flechten – langsam, vielschichtig, immer an den Rändern fortschreitend. Es entsteht im Zwischen: zwischen Innen und Außen, Denken und Sprechen, Ich und Welt.
Wenn wir schreiben, formen wir nicht nur Wörter, sondern Welt.
Schrift ist der Versuch, einen Gedanken aus dem Körper hinaus in die Welt zu legen – in Rillen, Linien, Zeichen. Schon der Homo erectus, der vor 370.000 Jahren seine ersten Kerben in einen Knochen ritzte, tat dies vielleicht nicht aus Nutzen, sondern aus Notwendigkeit: der Wunsch, Spuren zu hinterlassen, sich zu verbinden – mit der Zeit, mit anderen, mit sich selbst.
Vilém Flusser schrieb:

„Wir sind verflochten – mit Geschichten, Erinnerungen, Orten, Menschen, mit der Natur. Der Mensch nutzt Symbole, um die Kluft zwischen sich und der Welt zu überbrücken. Jede Linie, jedes Wort ist eine Geste des Verbindens. Und so ist jeder Text ein Gewebe, ein sichtbarer Versuch, Zusammenhang zu schaffen – aus dem Chaos der Gedanken, den Splittern der Wahrnehmung, den Stimmen im Inneren.“

Das Schreiben ist ein Aufsammeln, Ordnen, Verknüpfen. Es ist, wie die Flechte, eine Form des Überlebens: aus Fragmenten Sinn zu bilden, aus Stille Klang, aus Erfahrung Gestalt. Und manchmal ist Schreiben auch ein Heilvorgang – ein Rekonstruieren zerrissener Fäden, ein Spüren des Netzes, das uns trägt.

III. Das Leben als Geflecht

gewebt aus den gelebten Tagen,
mal Schaf, mal Wolf,
mal taghell, mal nachtdunkel.
Gerd Scherm

Ein Mensch, so schrieb Gerd Scherm, trägt sein Leben wie einen Teppich: Jedes Leben ist ein Gewebe aus Begegnungen, Entscheidungen, Zufällen. Einige Fäden glänzen, andere fransen aus, manche reißen. Doch alle zusammen bilden sie das Muster, das uns ausmacht.
Flechten lehren uns, dass Stabilität aus Beziehung entsteht – nicht aus Starrheit.
Dass das, was wir für getrennt halten, in Wirklichkeit durchzogen ist von feinen Fäden.
Dass Gegensätze – wie Pilz und Alge, Denken und Fühlen, Ich und Du – sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig nähren können.
Auch im Leben flechten wir fortwährend: Verbindungen, Allianzen, Geschichten.
Wir verknüpfen Erinnerungen mit Möglichkeiten, Vergangenheit mit Zukunft, Sprache mit Körper, Innen mit Außen.
So entsteht das, was wir Identität nennen – ein atmendes, sich wandelndes Gewebe.
In diesem Sinn ist auch das Denken selbst ein Flechten: kein lineares Fortschreiten, sondern ein rhythmisches Ineinander, ein Wachsen in Schichten.
Wie bei der Flechte: Es braucht Geduld, Feuchtigkeit, Zeit.
Und immer wieder: den Kontakt mit dem anderen.

IV. (Poetische) Praxis – vom HinSchauen zum Flechtwerk

Vom Denken ins Flechten.
Vom Flechten ins Schreiben.
Vom Schreiben ins Leben?
Flechten, eine Kulturtechnik, tausende Jahre alt, weltweit praktiziert, regional ausgeprägt und bis heute Hand-werk im wahrsten Sinne des Worts: Nur der Mensch beherrscht die komplexe Flechttechnik, keine Maschine kann ihn ersetzen. Mal entsteht ein Korb, ein textiles Gewebe, ein Gedicht, eine neue Form eines alten Gedanken, eine neue Sicht auf die Verflechtungen unseres Lebens. Wie die Flechte selbst: langsam wachsend, beharrlich zusammenhaltend, leise leuchtend im Verborgenen.

Von der Betrachtung in die Bewegung treten, Texte und Fäden ineinanderführen. Üben, wie Denken und Tun, Sprache und Stoff, Natur und Leben sich durchdringen. Unseren Gedanken aktiv folgen – mit unseren Augen, unseren Händen, unserer Sprache. Zulassen, wie Flechten eine Haltung, eine Weise wird, die Welt um und in uns zu verstehen – als lebendiges Netz, das uns trägt. Vielleicht entdecken wir, dass die Art, wie wir schreiben, dieselbe ist, wie wir leben: im Vertrauen auf das Zusammenspiel der Zeilen, die Knotenpunkte, das Dazwischen, die Verbundenheit – das Gedicht.


Dieser Text entstand als Impulsvortrag für einen Workshop in Berlin/Brandenburg.
Im Ethnologischen Museum in Berlin läuft noch bis 24.05.2026 die Ausstellung: All Hands On – Flechten! Die Ausstellung stellt die Faszination dieser Fertigkeit in den Mittelpunkt, zeigt Verflechtungen zwischen historisch gewachsenem Wissen und modernen Innovationen. – Ausdrückliche Empfehlung!

Gedanken

Das Ja bleibt Kunst

Haus der Berliner Festspiele, William Kentridge: The Great Yes, The Great No , © Stella Olivier

Es gibt meine Wahrheit,
deine Wahrheit,
die Wirklichkeit,
und das, was tatsächlich passiert ist.
William Kentridge, The Great Yes, The Great No

Das Ja bleibt Kunst
bleibt hungrig und “foolish”
bleibt schüchtern und “eyes wide shut”
bleibt störrisch und misfit, mit jeder Krise mehr
und verkracht doch die Existenz jeden Zweifels
schon beim Anbiss des einen Augenblicks
der den absichtlich Zapfenstreich überhört.

Aber, setzt das Stück an, auf dieser ganz besonderen Reise, die eine Flucht ist, und von der das Leben so viel lernen kann, nicht zuletzt die eigene Rolle immer wieder und immer wieder neu und neugierig zu erproben, Masken auf- und abzusetzen, und sich den Horizont für einen Tanz mindestens zur Brust zu nehmen: wenn schon nicht für ewig, dann wenigstens für immer.
Auch wenn oder gerade dann wenn gilt, dass
“da, wo du herkommst, wirst du nicht vermisst
da, wo du hinmöchtest, bist du nicht willkommen
da, wo du bist, bist du nicht zuhause.”

Heimat wird zum Los unter Nieten,
zur Fata Morgana in einer Wüste aus Meer, zu einem Traum unter Schlaflosen. Wenn du kannst,
verdreh einer Poetin den Kopf,
bring einen Musiker zum Klingen,
versorge einen Koch mit Zutaten und sei es nur ein Saatkorn –
Oh Metapher! ich hör dir trapsen, wohlwissend, ein Korn macht noch lange keinen Garten,
und doch ist der nächste Baum, einer, den du pflanzt,
das nächste Gedicht eines, das du schreibst,
das nächste Lied eines, das du singst,
wenn schon nicht mit den deinen, dann wenigstens in ihrer Sprache,
die die Worte kennt, die dein Herz an eine Ankunft glauben machen!


Mit Dank an das Haus der Berliner Festspiele, die dem Stück in Berlin eine Bühne, dem Thema eine vielgestaltige Stimme gaben