Gegenwart

Moskau in Wind und Watte

Moskau

3 Tage Moskau hieß 3 Tage Regen. 3 Tage Warten. 3 Tage in fremden Lettern. 3 Tage Freundschaftsdienst. 3 Tage Frühaufstehen. 3 Tage Walderdbeeren. 3 Tage Staunen auch. Im Detail:

#1: Wind of Waiting
Moskau serviert Vanilleeis an Endloswarteschleife: Sicherheit wird hier groß geschrieben, so groß, dass alles andere zwischen die Zeilen fällt. Ohne Ausweis komme ich kaum zum Friseur, nicht in den Zug und im Zweit-Hotel will man mich erst aufnehmen, als ich beweisen kann, dass ich auch die Nächte davor in guten, will heißen offiziell bestätigten Händen verbracht habe. Um auf den Fernsehturm steigen zu dürfen, benötigen wir ungelogen 2 Stunden Wartezeit, drei Sicherheitskontrollen und erst als wir den Eisverkäufer um all sein Vanilleeis gebracht und unsere Textsicherheit in Sachen Wind of Change erfolglos auf die Probe gestellt hatten, dürfen wir – einzeln versteht sich – vortreten.
Warten ist meine Sache nicht, entsprechend bröckelt mein Enthusiasmus. Doch dann biegt Moskwa um die Ecke, zwischen 50 shades of grey fließend  Noldehimmel zähmend.

#2: Bring Water, my Friend!
Eingeladen zum Gala-Dinner der Stadt Moskau darf ich mich zwischen Rotwein (Italien), Weisswein (Chile), Whiskey (Schottland) oder Wodka (Russian Standard Wodka) entscheiden. “Sparkling Water” allerdings müsste extra bezahlt werden. Mein ungläubiges Lächeln quittiert der Kellner mit einem verlegenen Tänzchen und verweist galant auf die Karaffe stillen Wassers am Tisch. Dass diese nur ungern nachgefüllt wird, versteht sich ebenso wie dass man mir mein Wasserglas bei erster Gelegenheit entführt. Erziehungssmaßnahmen der etwas anderen Art vermute ich und verweigere mich spontan, mein Wodkaglas mit Wasser füllend. Dann wird offensichtlich, dass auch Weingläser und Teller entführt werden, Weinflaschen endlich und Wasser zumindest still vorhanden. Well!

#3 Goodbye Spontaneität
Die Freundlichkeit, die ich mitgebracht hatte, verschenke ich großzügig an Servicekräfte, Kollegen und Mitreisende wie C., der bereits am ersten Tag lächelt, als wüsste er, dass wir uns viel zu erzählen hätten. Er kennt Moskau seit Jahren, flirtet mit ihren Ecken und Kanten und weiss mich neugierig zu machen auf die Kleinode, die ich mir für den letzten und freien Tag vornehme. Gut, dass ich noch Freundlichkeit übrig habe, auf meine Bitten, Englisch zu sprechen, kommt nicht selten ein herzhaftes Seufzen, ob das denn sein müsse und man selbst könne das nicht, aber eventuell der Kollege, ob man den holen solle, na gut, Momentchen. Momente, aus denen spielend Stunden werden und die, wir ahnen es, zwei, drei Sicherheitskontrollen nach sich ziehen. Im Supermarkt mit Visakarte zahlen oder ins Hotel einchecken dauert so einen Moment.

#4 Wetterchen, nein Dankeschön!
Als Sommer-Reise angekündigt, tun wir gut daran, Hamburger Mode zu tragen, auch wenn morgens die Sonne scheint. Immer wieder fällt Regen aus Wolken, die den Himmel mit Drama beziehen und die Sights gekonnt in Szene setzen, aber eben auch die abendlich angesetzte Kiez-Tour ausfallen lassen. Stattdessen ging es mit den Kollegen an die Hotelbar, die dem Alkohol sei Dank schneller die Contenance vergaßen als mir lieb war, plötzlich italienisch sprachen und mich aufs Zimmer flüchten liessen. Welt, was willst du mir sagen mit diesen Begegnungen zwischen viertel vor und viertel nach? Warum darfst du, Moskau, mir das Gefühl geben, so klitzeklein zu sein, so ameisig und unwesentlich? Warum darfst du über meine Zeit verfügen, meine Geduld auf die Probe stellen? Warum darfst du so unsagbar zweckgebunden sein, so bräsig und absolut? Warum fällt es mir so schwer, hier anzukommen, gar bleiben zu wollen?

#5 Down to Gorki Park
Erst als ich loslaufe und mich verirre in deinen Seitengassen, als ich hinter deine steingemeißelten Fassaden schiele und die Sonnenbrille trotz Regen aufbehalte, da beginnst du plötzlich zu lächeln, schiebst widerwillig einen Park um die Ecke, grünumflort mit Bänken und Fahrgestellen, mit Limo und Uferpromenade. Cake auf den Ohren “I want to love you madly” geht es die Leninallee hinan. Den Mund lass ich mir stopfen mit Walderdbeeren, die die Strassenverkäuferin kiloweise verkauft. Den Regen lass ich mir den Nacken hinabrinnen, bis ich schauernd Zuflucht suche in der nächsten Bushaltestelle und endlich dem Alltag begegne. Der lächelt unter selbstgebastelten Regenhüten hervor und dieses Lächeln behalte ich, den Refrain mitsummend. Ich stiere von nun an zurück, bis auch die Bauarbeiter grinsen müssen und mich gestikulierend auf die andere Straßenseite bugsieren.

#6 Moskau ist eine Baustelle
Gutes Schuhwerk ist Pflicht, nicht wegen der Distanzen allein, kaum ein Gehsteig, der nicht gerade im Umbau befindlich, kaum ein Bagger, der stillsteht. Moskau, ich mag deinen Willen zur Veränderung, deine Sturheit, deinen Bürstenhaarschnitt mit dem du deine Kuschelrocksammlung überspielst. Ich mag deine nur notdürftig kaschierten Wasserflecken, deine auf Effizienz gebauten und längst in die Jahre gekommenen Wohnblockeinheiten, deine patente Art, Unterführungen in Supermärkten zu denken, deine Bockigkeit, wenn es darum geht, etwas anderes als Russisch zu sprechen. Ehrlich. Ich hab nur auch nichts gegen Gastfreundschaft und Selbstironie, habe eine Schwäche für Wassergläser, offene Blicke und ich kann mich sehr an kleinen Regelbrüchen & Zärtlichkeiten erfreuen.

#7 Gegessen wird zu Hause
Gegessen wird viel und gern und unbedingt zu Hause oder im Restaurant, ganz sicher jedoch nicht auf der Straße. Streetfood ist nicht und auch nicht Bier auf die Hand. Coffee to go versuchen manche, aber es sind wenige, die den Becher mit auf die Strasse nehmen. Fast ebenso wenige greifen zum Fahrrad übrigens, dann sieht man schon eher hier und da Tretroller, angeschlossen oder in Aktion: ein einsamer Anzugträger etwa, der eine der gehwegschädenfreien Strecken entlangtrabt, schiebt, rollt.
Mittags oder abends, selbst morgens wird ähnliches aufgetischt scheint es: Fisch und Brot, Rote Beete; Meerrettich und Ei, Fleisch und sauer Eingelegtes. Ungelogen servierte man uns im Rahmen des offiziellen Teils an 6 Mahlzeiten nacheinander die gleichen Bestandteile in unterschiedlichen Kontexten und Variantenreichtum und von unterschiedlichen Gastgebern.

#8 Zu früh oder zu Wasser
Moskau zu lieben fällt mir am leichtesten morgens um 4, als die Straßen leer, das Licht warm und Moskau, selbst noch blass um die Nase, nach dem ersten Kaffee giert. Wenn der Tag sich erst warmturnt, noch nicht ganz sicher, was er heute anziehen soll und ob überhaupt aufstehen angesagt ist. Wenn die Strassenreinigung versuchsweise ein paar Schwünge fährt und die Bäcker ihre Auslagen bestücken. Da hast du diese Leichtigkeit Moskau, diese Möglichkeit auf den Lippen und im Augwinkel, die dir im Laufe des Alltags abhanden kommt. Nähert man sich dir zu Wasser, du am Ufer, wie ein Tiger im Zoo auf Distanz, wird schön, was vorher fast unerträglich: Deine schiere Masse, deine Unmenschlichkeit im Wortsinne, deine Affinität zu Beton und rechten Winkeln, zu Schablonen und Widerholungen, zu Eindeutigkeit und Effizienz.

#9 Big Nümmerchen
Baby, ganz ehrlich? Was du in den paar Tagen an Daten eingesammelt hast, geht auf keine Kuhhaut. Mit dem Visa fing es nur an, es folgten Codes, Registrierungsnnummern, Stempel, Kopien und Kopien von Kopien – sag, wer prüft das alles? Wer behält den Überblick? Wer will das wissen? Bist du komplett unterkellert und zwischen den Ubahnstationen sitzen Registrare, die nie das Licht, dafür Nummernreihen in Endlosschleife passieren lassen? Deren Büro aus Aktenordnern gebaut, denn wo sonst wolltet ihr eure Kopien abheften? Ist es das Schicksal all der Birkenwäldchen zu Papier zu werden, gesichtslos, gut zu drucken? Du siehst mich staunen und nur dass du mich trotz allem und nur unwesentlich fluchend mit einem falsch geschriebenen Nachnamen ausreisen lässt, gibt mir Mut, an deine Fehlertoleranz zu glauben. Und an uns.

#10 One for the road
Nächstes Mal lass ich die Tage links liegen und schenk dir Nächte. Die Stunden dies- und jenseits von Mitternacht möchte ich mit dir teilen, mit dir wachbleiben, bis der Rummel schlafen geht, alle Ablenkung abtaucht und wir zwei uns noch ein wenig tiefer in die Augen schauen können. Dann erzählst du mir, was dich umtreibt, was dich ächzen und stöhnen macht und was dich morgens aufstehen lässt, abgemacht? Ich möchte wissen, zu welcher Musik du tanzt, welche Museen dich durch den Winter kommen lassen, in welchen Fluss du dich stürzt, wenn du dich reinwaschen möchtest, ob du Überraschungen magst und welche Menschen dich an deine Zukunft glauben lassen. Ein Jahr ist mein Visum gültig, ich werde dich überraschen, habe ich mir überlegt und freu mich schon jetzt auf dein verdutztes Gesicht.

Geliebte

London auf Abwegen

pixlr_20170611231914877

Dankbarkeit war meine Sache nie, lachst du und weist die Stadt damit galant in eine Rolle, die sie sich nie selbst ausgesucht hätte, die ihr aber hervorragend steht. Blush du nur, London, lass deine hohen Wangenknochen leuchten!

Von wegen “Nur mal kurz …” Du bist mir eine zum Pferde stehlen und regelmässig auf Abwege geraten, auf deinen Straßen ist Müßiggang teuer und Rotkäppchen in sicherer Versuchung.

Deine Pfützen knietief wie eh und je, hast du mir ein Bett im Park bereitet, das deine Rockervergangenheit vibrieren ließ und Kaffee ans Bett statt to Go zur adäquaten Lösung erkor. Du ließest dir nicht bange machen und mich nicht müde werden, an deinen Lippen Farbkleckse ausfindig zu machen, die du beim Abschminken scheinbar übersehen hattest. Absicht?