Gedanken

60 Stunden

60 Stunden bekommt man verschrieben, wenn man auf einmal nicht mehr sehen kann. 60 Stunden um den Umgang mit dem Stock zu lernen, das gleichmäßige Schwenken, das Halbkreise auf den Boden vor sich zeichnen. 60 Stunden um das Gewicht und den Rhythmus halten zu lernen. 60 Stunden um wieder verkehrstauglich zu werden.

Als Bonusmaterial gibt es eine Leuchtdiode, einem Fahrradrücklicht nicht unähnlich, die man sich an die Brust pappt, um auch im Dunkeln gesehen zu werden, raffinierterweise mit einem Zippo ausgestattet, an den man den Stock vorübergehend einklinken kann, wenn beide Hände benötigt werden. Beim Zahlen an der Kasse beispielsweise. Und für den Stock ein rundes und ein spitzes Endstück, alle zwei Monate müssen sie ob Verschleiß ausgetauscht werden. Der schwarzgepunktete gelbe Anstecker gehört serienmäßig in dreierlei Ausführung dazu.

60 Stunden, auch wenn es schwierig wird, die Zeit zu lesen. Eine Alternative bieten zeitansagende Armbanduhren, etwas diskreter die Variante zum Aufklappen mit in Braille verfasster und damit abtastbarer Zeitangabe. So gar nichts für Fashion-Victims und zarte Armgelenke sind die grellbunten Exemplare mit bierdeckelgroßem Ziffernblatt. Obwohl Farbe wichtig wird, wenn das Augenlicht abnimmt und so transparente Glasgefäße – Wasser- und Weingläser beispielsweise – nicht mehr wahrnehmbar. Aber in Zeiten von IKEA hat man ja große Auswahl an Buntglasgefäßen jenseits des Kristallglases, so dass das unvermeidliche Zerschmeißen trotz Signalfarbe nicht gleich den Bankrott nach sich zieht. Teetrinken, und auch Kaltgetränke in Zukunft aus dickwandigen Tassen zu trinken, sind trotzdem weitere bedenkenswerte Möglichkeiten.

60 Stunden, wenn Fernsehen zum Radio verkommt, wenn Zugfenster nur mehr Schlieren beheimaten und Bücher keine Freunde mehr werden können. Wenn Mitmenschen zu lärmproduzierenden Silhouetten verkommen, die oft wohlmeinend stützen wollen und sich dann scheiternd abwenden. 60 Stunden, wenn die Tage mit Unsichtbaren gefüllt werden wollen, Freunde zu Helfern verkommen und wenn Teelichter nur mehr Wärme aber kein Licht spenden. Die Schokolade schmeckt noch wie im Vorjahr, zeitlos gut nämlich, die Eisblumen hingegen werden unbemerkt blühen.

4 Gedanken zu „60 Stunden“

  1. Ole sagt:

    Das erinnert mich daran, dass ich “Erbsen auf halb sechs” sehr poetisch und doch so unsäglich fand.

  2. the thilo sagt:

    Haben Sie einen persönlichen Anlass, sich solche Gedanken zu machen?

  3. T.M. sagt:

    Das hab ich mich auch gefragt.

  4. kopffuessler sagt:

    @Ole: unsäglich ist ein tolles Wort ohne Antonym – oder gibt es säglich? Und ja, war schade drum.

    @the thilo und T.M.: Über meine Motivation schwiege ich mich hier gerne aus, ‘tschuldigung, aber nein, ich geh noch nicht am Stock.

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