Gedanken

Atmen in einer fremden Sprache

There is no meaning if meaning is not shared,
and not because there would be an ultimate
or first signification that all beings have in common,
but because meaning is itself the sharing of Being.
Jean-Luc Nancy, “Being Singular Plural”(2000)

“Außer Atem” lag mir auf der Zunge, aber dann habe ich den Film doch nicht erwähnt, an diesem Abend, an dem sich alles um die Verknappung der Luft, der geistigen, wie der tatsächlichen drehte, aber kein Mediziner, kein Naturwissenschaftler auch am Tisch saß, der hätte sagen können, Moment, so geht das aber nicht, und überhaupt in der Luft ist so viel mehr als Stoff zum Atmen, stattdessen Geisteswissenschaftlerinnen und Ästheten, Designer und Philosophinnen, die dem Leben auf die Schliche kommen wollen und sich selbst in Szene setzen dabei, die Geschlechter willkürlich, aber nicht nur verteilt, denn ja, es sitzen Frauen am Tisch, die Gastgeberin ist eine, die Diskurse aber führen über weite Strecken die Männer, die Show machen die Männer, die Frauen entschuldigen sich für ihre Fragen, für ihre Antworten auch, zuweilen hätte ich sie fast angehalten, die Zeit, den Atem, die Männer, und die Gespräche auf eine andere Route geleitet, vielleicht hätte ich ein Baustellenschild aufstellen müssen, eine Schranke fallen lassen, jedenfalls, stellten wir unisono fest, wie diskursanregend dieser Text von Nancy, und waren uns einig, ihn alleine und ohne Abendverabredung nicht oder nicht zu Ende gelesen gehabt zu haben.

DES ATEMS BERAUBT

Was bleibt? Vielleicht nichts. Oder vielleicht die Spur eines Hauchs

„Wir“ – die Ärzte, Soziologen, Politiker, Philosophen – sind außer Atem gekommen und sind es immer noch. Gewiß, wir haben viel geredet, sowohl um das Phänomen und seine Ursachen zu analysieren, als auch um Bekämpfungsstrategien zu erfinden oder die Erwartungen, Befürchtungen und Hoffnungen zu projizieren, die durch die „Welt danach“ – wie man oft sagte – aufgeworfen werden.
Doch wurde in jedem Bereich – anfangs selbst im medizinischen – alles mögliche und das Gegenteil davon gesagt. Man hat unaufhörlich Widersprüchlichkeiten produziert, sei es im Hinblick auf zu ergreifende Maßnahmen und ihre sozioökonomischen Folgen oder auf die den Staaten obliegenden Notwendigkeiten und die Gefahr, daß unsere Freiheiten dabei Schaden nehmen könnten, oder sei es im Hinblick auf die Lehren, die bezüglich des Wachstums und aus dem steigenden Bedarf an technischen Innovationen zu ziehen wären und so fort. Sie wissen all das.
Eine solche Anhäufung von Divergenzen und Ungewißheiten weist keinerlei Ähnlichkeit mit etwas Bekanntem auf und gleicht bestenfalls noch dem ungeordneten und angsterfüllten Zustand der römischen Welt ab dem 4. Jahrhundert (ich werde noch darauf zurückkommen). Genau deshalb gilt es, all unseren Reden eine Feststellung hinzuzufügen: Wir sind des Atems beraubt (nous sommes soufflés). Wir sind erstaunt über das, was der globalisierten Welt weltweit zustößt. Wir sind aufgrund unserer technobiologischen Schwierigkeiten völlig außer Fassung gebracht, vor allem aber sind wir, wie es scheint, dabei, die meisten unserer großen ideologischen, kulturellen und politischen Anhaltspunkte endgültig zu verlieren. Wir könnten es auch mit anderen Worten sagen: Wir sind betroffen, wir sind berührt und getroffen (touchés). Es steht außer Frage, daß toucher („berühren“) einige Bedeutungen und Variationen besitzt, die mit souffler („hauchen“) verwandt sind. Letzteres stellt in der Tat die leichteste, die am wenigsten greifbare Form von Berühren dar. Das Berühren, das berührt, ohne wirklich zu berühren. Was aber dennoch ganz anders ist als der Atem, den es einem verschlägt (souffle coupé), was der wichtigste Effekt des Hinweggeblasen-Seins ist (de l’être, soufflé).

Atmen in einer fremden Sprache

Gehabt zu haben. Plusquamperfekt. Wir geben uns Mühe, die Sprache, die uns zur Verfügung steht, sorgfältig einzusetzen, die deutsche also. Sie reicht geradeso, es ist spürbar, dass der Text aus dem Französischen übersetzt wurde und ich vermisse  das französische Original. Übrigens kein Übersetzer am Tisch, dabei wird bei meiner ersten Anmerkung deutlich, dass keiner am Tisch des Französischen in seinen Nuancen mächtig genug, um sich bei diesen von Nancy zu Papier gebrachten Atemzügen in all ihre Assoziationsketten einfädeln zu können, es bleiben die Über-Setzungen, mal stimmig, mal fraglich in ihren Bezügen über Zeilen hinweg an Ufer, die wir im Kopf haben. Ich überlege, den Akt des Übersetzen zwischen den zwei Sprachen stellenweise aufzudröseln, also auch das im Kopf, das in verschiedenen Abstufungen zwischen unbewusst und bewusst geschieht, wenn man einen Text in einer fremden Sprache liest und dann in die eigene übersetzt, und inwiefern das eher Last oder eben gerade durch das Fremdeln der lustvolle Beginn einer Untersuchung philosophischer Art. Wo beginnt das französische respirer, wo endet das souffler, wo nähert sich das deutsche atmen, wo holen wir Luft, wo lassen wir atmen? Ich werfe den Namen einer Frau ein, die zu verwandten Themen arbeitet, man möchte sich ihren Namen notieren und fragt nach den Büchern, die sie dazu schrieb, aber sie schrieb gar keine Bücher, sie arbeitet dazu. Merke, wie das am Tisch als Option gedanklich adhoc nicht zur Verfügung stand: Praxis. Frage mich spontan, ob man in der Theorie anders atmet, als in der Praxis, am Tisch anders als auf den Knien, weiß, dass ich laufe, auch um zu atmen, in dieser Art, die ich im Sitzen nicht hinbekomme.

Mund-zu-Mund-Beatmung

Wir schlagen statt Keksen eine Atempause vor, geführtes Atmen, ob es das leichter macht, sei dahingestellt, einmal in den Bauch, in die Tiefe, wir merken, wie heikel das Thema auch, wie nah uns das geht, wie intim das ist, wie der Atem hörbar wird und die Stille Raum einnimmt, als eine Person die Schwere benennt, die der Text führt, gerade wenn man die Umstände, die Lebensphase des Autors berücksichtigt, wenn man das Ende mitdenkt oder auch nur den Titel weiter, die Endlichkeit des eigenen Atems als gelebte Praxis und erlebte Praxis dessen, was diskutiert wird: Das Sein als Solches, als etwas das in und mit uns lebt und mit uns stirbt auch. Was wäre wenn der eigene Atem langsam unmöglich würde, wir könnten noch denken, ein wenig, aber sprechen würde schwierig werden ziemlich schnell, ist ja auch beim Küssen so, fällt mir da ein, auch wenn, aber hey so ganz aus der Luft gegriffen kann der Titel nicht sein, die Anspielung eines französischen Philosophen muss auch Godard für seine Leserinnen als Assoziation ersten Grades mitgedacht haben, auch wenn oder eben vielleicht gerade weil das Leben und sein potenzieller Verlust gerade Mund zu Mund spürbar.  Mund-zu-Mund-Beatmung als letzte Rettung, wenn der eigene Körper des Atmens nicht mehr mächtig. Einatmen als Anerkennung dessen, was ist. Ausatmen als Abstoßung auch und: Was gibt der eigene Atem preis über uns jenseits von Mundgeruch? Welche Parameter könnte, wer wollte und den passen Algorythmus parat, ablesen? Den Atem lesen, lass mich deinen Atem lesen?

Den Atem teilen

Den Atem teilen, das zumindest tun wir alle, zumeist unbewusst, und über alle Ekel-Grenzen hinweg mit einer Leichtigkeit, die uns am Tisch kurz schwindelig werden lässt, In wieviele Räumen atmen wir kollektiv Luft, sogenannte Luft ein und aus. Wann heißt sie Luft, welche Kriterien müssen erfüllt sein, wieviel Sauerstoff, welche Dichte? Und: Wann wird sie zu Atem? Beim Übertritt über die Lippen, nein, das wäre zu spät, wir benennen ja auch die ausgestoßene und bei entsprechender Kälte sichtbar werdende Luft als Atem, aber irgendwann, Radius?, wird sie zur Luft, die uns allen gehört. Frage mich kurz, ob das wie bei den Meeren ist, die vor den Kontinenten kurz zum HErrschaftsgebiet des jeweiligen Landes gehören, oder der Luftraum (sic!) über einem Land, was ja noch näher liegt. Mein Luftraum, dein Luftraum? Wie großzügig sind wir mit unserer Luft, wenn sie knapp wird? Wer darf einatmen, was wir soeben ausgeatmet haben und wieviel Zeit lässt man der Etikette nach verstreichen? Gelten für Familienmitglieder andere Zeiten als für Fremde? Ist es unhöflich im Aufzug aus der Ecke einzuatmen, aus der auch du einatmest? Lässt sich melodiös atmen? Sicher ist Singen bedarf des Atmens, Lyrik bedarf des Atmens, Musik lebt in dieser geteilten Sphäre, das wusste auch Rilke und vielleicht eines seiner mir liebsten diese Ode an den Atem der Statuen

Musik: Atem der Statuen

Musik: Atem der Statuen, vielleicht:
Stille der Bilder. Du Sprache, wo Sprachen
enden, du Zeit,
die senkrecht steht auf der Richtung vergehender Herzen.
Gefühle zu wem? O du,der Gefühle
Wandlung in was?: in hörbare Landschaft.
Du Fremde: Musik. Du uns entwachsener
Herzraum. Innigstes unser, das, uns übersteigend,
hinausdrängt —,heiliger Abschied:
da uns das Innre umsteht
als geübteste Ferne, als andre
Seite der Luft,
rein,
riesig,
nicht mehr bewohnbar.

Rainer Maria Rilke

Atmen lehren

Die hohe Kunst des Atmens wird dieser Tage wieder in diversen Studios angeleitet, Bauch-Atmung und überhaupt Tiefe, tiefer als nur mal eben unbewusst der Lunge ein wenig Luft zuführen, nein ein echter Austausch soll zustande kommen, der Körper geweitet und die Zellen beatmet. Das Yoga kennt die Bewegungen, die das Atmen erleichtert und wirksamer gestalten, die Meditation nutzt den natürlichen Rhythmus, den das vegetative Nervensystem unseren Atemzügen zugrunde liegt. hat eigentlich jeder Mensch einen eigenen Rhythmus, kann man Menschen an seinen Atemzügen erkennen, fragt mich eins meiner Nebenhirne und imaginiert eine Wetten-Das-Wette mit Atemzügen unterschiedlichster Couleur, da fällt mir ein wie unterschiedlich allein ein Mensch in verschiedensten Situationen atmet, aufgeregt, erkältet, ängstlich, gestresst, erregt, erschöpft, schlafen, tief schlafend, meditierend, trainierend, außer Atem nicht zuletzt und wie wir 14jährig das Atmen beim Küssen regelrecht trainiert haben, ähnlich dem beim Schwimmen, damals im Schwimmunterricht, angeleitet mit Kopf zur Seite drehen, einatmen, Gesicht unter Wasser, ausatmen, und wie das nie funktioniert hat und ein Arm immer aus dem Takt kam.

U1 zu Die Atemlehrerin

Die Atemlehrerin

Dass Atmen sich lernen und lehren lässt, ist so neu nicht, die Zen Buddhisten natürlich, aber auch im New York des letzten Jahrhunderts gab es eine Schule. Angeleitet von einer Deutschen, einer Ausgewanderten, Carola Joseph, später Carola Spitz, die eine ganze Schule dazu entwickelte, ein Studio betrieb, in dem hauptsächlich Frauen das Atmen erlernen wollten und dabei Achtsamkeit beigebracht bekamen.

Christoph Ribbat hat sich dieser Geschichte angenommen und erzählt in Die Atemlehrerin die berührende Geschichte dieser Frau. Die Gymnastiklehrerin, 1901 geboren, lebt, arbeitet, forscht in Berlin, heiratet, heißt dann Carola Spitz, flieht, wird zu einem jüdischen Flüchtling in New York, etabliert sich als »Carola Speads« in Manhattan und lehrt, als sie 97 Jahre alt ist, noch immer in ihrem Studio am Central Park.

 

Ich habe dir Atem mitgebracht

Atem schenken kann vom Narrativ her eigentlich Gott allein, zuweilen mit dem Klaps der Hebamme auf den Hintern des Säuglings als weltlichem Komplizen, dann liegt es am Menschen selbst, zu atmen oder zu schweigen. Ein schöner Gedanke vielleicht genau deswegen: Ich habe dir Atem mitgebracht, unverbrauchten, frisch geschöpften oder: Nur von mir geatmeten. Luft, die nur meine Lungen kennt, aber die inwendig. Oder aber eine Tüte voll. First Class Breath? Den Atem uns zu rauben, dazu genügt für Momente ein Schreck, eine Wunde, ein Schmerz, oder auch Kälte. Wenn es mal länger dauern soll oder eben ewig, die Atemlosigkeit, bleiben uns Frost und Tod und Stille und ein Vakuum, in dem das Leben nichts zu suchen hat.