Gemäuer

Wohl bekomm’s: La cité radieuse – Wo Sonne und Winkel sich gute Nacht wünschen!

«La réalisation de l’Unité de Marseille aura apporté à l’architecture contemporaine la certitude d’une splendeur possible du béton armé mis en œuvre comme matériau brut au même titre que la pierre,
le bois ou la terre cuite.»

Discours d’inauguration, 14 octobre 1952

Die Unité d’habitation de Marseille – auch bekannt als Cité radieuse de Marseille oder umgangssprachlich La Maison du fada – ist eine Wohnanlage, die zwischen 1947 und 1952 von dem Architekten Charles-Édouard Jeanneret-Gris, besser bekannt unter dem Pseudonym Le Corbusier (1887-1965), errichtet wurde.

Die urbane Anlage ist Le Corbusiers erster öffentlicher Auftrag. Teil des Programms der experimentellen Baustellen für den Wiederaufbau nach dem Krieg. Le Corbusier erhält vom Minister für Wiederaufbau und Städtebau den Auftrag, in Marseille ein Wohngebäude zu errichten. Marseille als Standort für dieses Projekt ist dabei tatsächlich das Ergebnis einer politischen Strategie, die versucht, Le Corbusier von den großen Einsatzgebieten des Wiederaufbaus – wie dem Perret anvertrauten Le Havre – fernzuhalten.

Le Corbusier hatte bereits 1914 über sozialen Wohnungsbau im Kontext modernen Städtebaus gemäß der Charta von Athen nachzudenken begonnen. So wendet er hier unter anderem das Prinzip des sogenannten “Villengebäudes” an. Dieses bereits 1922 entwickelte Prinzip besteht darin, das Haus und das Gebäude miteinander zu vereinbaren, indem den Nutzern Wohnungen angeboten werden, die sich als kleine Familienhäuser auf zwei Ebenen präsentieren, die durch Loggien verlängert werden, die als Garten fungieren. Der relativ geschlossene Charakter dieser Loggia bewahrt die Intimität der Wohnung.

Auf dem Dach befindet sich eine noch heute für alle zugängliche Dachterrasse, die einen hängenden Garten, einen Aussichtspunkt und einen öffentlichen Platz umfasst. In dem Gebäude auf dem Dach befanden sich zudem eine Turnhalle, eine Leichtathletikbahn, ein Solarium, ein Theater, ein Kindergarten und sogar ein Planschbecken. Heute bietet diese Dachterasse neben viel Wind und viel Beton, die ein oder andere Absperrung, aber auch einen öffentlich zugänglichen Platz an der frischen Luft und in der Sonne mit einem atemberaubenden Panoramablick. Die Turnhalle wurde 2013 in ein Kulturzentrum umgewandelt.

«L’unité de Marseille com- mence au feu, au foyer de chaque famille […] Tout le reste, n’est que conséquences. » Le Corbusier, « L’unité d’habitation de Marseille », le Point (Mulhouse), novembre 1950, p.31

Le Corbusier stellt den Menschen als Nutzenden in das Zentrum seiner architektonischen Überlegungen, eine Architektur, die auf dem Modulor basiert, einem Maßsystem, das auf dem menschlichen Körper basiert, um sowohl das Gesamtvolumen des Gebäudes als auch das der Innenausstattungselemente zu berechnen. Er hatte dabei immer auch Mobilität und Bewegung im Kopf, und legte großen Wert auf das Konzept der Zirkulation, die durch innere Wegeleitung, sowie Durch- und Übergänge erleichtert wurde.

Die Ausrichtung des Gebäudes wird von einer Nord-Süd-Achse bestimmt, orientiert am Lauf der Sonne. Die einzelnen Wohnungen profitieren so von einer doppelten Ausrichtung nach Osten und Westen und werden durch die nach außen geöffnete Loggien nicht nur optisch verlängert. Die Sonneneinstrahlung wird durch Sonnenbrecher kontrolliert, die die Fassaden zusätzlich zu den Farben rhythmisieren. Auf halber Höhe des Gebäudes (Ebenen 7 und 8) befindet sich die Einkaufsstraße mit ihren Geschäften, Büros und Dienstleistern, wie Friseur oder Arztpraxen, von außen erkennbar durch die vertikalen Lamellen der Sonnenschutzvorrichtungen. Heute finden sich ein Hotel, nebst Restaurant, mehrere zumeist Architektur- oder Planungs-Büros sowie Dienstleister und ein Konzeptstore.

Das Gebäude beeindruckt auf den ersten Blick durch die Kraft und Plastizität der verschiedenen, interagierenden und sich ergänzenden Volumen, wie Stelzen oder Außentreppe aus, und durch die Silhouette seines Daches, das von zwei skulpturalen Schornsteinen dominiert wird. Wohnen, arbeiten, interagieren, sowie Körper und Geist kultivieren: Die vier Schlüsselfunktionen, die bei der Gestaltung des Gebäudes im Vordergrund standen, übernahm Le Corbusier auch für die vier weiteren  Unités d’habitation nach dem Marseiller Modell in Nantes-Rezé, Briey-en-Forêt, Firminy und Berlin.

Das Gebäude besteht aus vier unabhängigen Blöcken, die durch Dehnungsfugen voneinander abgegrenzt sind. Die Fassadenelemente, einige Bodenbeläge und die Trennwände der Wohnungen sind vorgefertigt. Sechsunddreißig Stelzen tragen einen „künstlichen Boden“, auf dem ein Gerüst aus Stahlbeton montiert ist, das vor Ort gegossen wurde. Die Böden, Decken und Wände der Wohnungen sind unabhängig voneinander, um die Schalldämmung zu verbessern. In dieser Struktur erscheinen die Wohnungen wie kleine, voneinander unabhängige Familienhäuser. Bleikästen, die zwischen den Böden der Wohnungen und dem allgemeinen Rahmenwerk eingefügt werden, sorgen für eine echte Schallisolierung.

Jede Wohnung ist als einzelne biologischen Zelle gedacht und wird komplett zusammengebaut und dann vor Ort in den Betonkörper eingefügt. Die übereinander gestapelten Zellen sind in erster Linie als „Behälter einer Familie“ gedacht. Auf sieben Stockwerken ineinander verschachtelt und durch breite „Straßen“ erschlossen, verglich Le Corbusier seine Struktur mit einem Flaschenregal, in dem jede Wohnung wie eine Flasche Platz findet. Die explizite Verwendung des Wortes Zelle ist dabei bei Le Corbusier positiv besetzt als ein Synonym für Heim und verweist auf zwei Welten, die Le Corbusier stark beeinflussten: die Biologie und die sakrale Architektur.

Hier setzt auch der Nick-Name „Cité radieuse“ an, da Le Corbusier die Sonne, das Licht, als das wichtigste „Material“ eines Architekten ansieht. Tatsächlich war die Suche nach Helligkeit bei seiner Gestaltung eine seiner Prioritäten – was sich ästhetisch, aber natürlich darüber hinaus für Aufenthaltsqualität und im übertragenen Sinne für ein Ermöglichen von Wachsen und Gedeihen der Bewohner bezahlt macht.