Stadtrand, The Story behind the Picture, Zettelkasten

Wiener Muse(e)n revisited

Für viele Wien-Besucher mögen die Schätze in seinen Konditoreien und Gasthäusern zu heben sein: Sachertorte und Punschkrapfen, Kipfel und Kaiserschmarrn, Strudel, Schnitzel und Kren. Für andere aber tummeln sich die Goldnuggets in den Wiener Museen – sic! Der Blick in die Etymologie verrät, im Lateinischen ist das Museum der designeirte Ort für “gelehrte Beschäftigung”, auf griechisch gilt mouseĩon = Musensitz oder Musentempel, hergeleitet von moũsa = Muse. Hätte ich also bereits früher drauf kommen können, dass Muse und Museum zusammenhängen.

Und so nutze ich die Aufmerksamkeit, eine aktuelle Runde  Wiener Muse(en) und ihre Displaysvorzustellen. Wir beginnen in einem Hinterhof im siebten Bezirk mit einem kleinen Haus:

1 Westlicht Vienna | Mary Ellen Mark

Das Westlicht Vienna bezeichnet sich selbst als Schauplatz für Fotografie. Mir ist es oft Guckkasten: Unsere Welt durch die Linse von Fotograf:innen betrachtet, die sich mithilfe ihrer Kamera die Welt auf eine Weise erschließen, die ich so nicht auf dem Schirm hatte. Dabei ergeben sich für mich neue Perspektiven und Sinn-Zusammenhänge, allem voran natürlich visuelle. Aktuell ist alles in schwarz-weiß gehalten, die großformatig aufgezogenen Bilder der Mary Ellen Mark (noch bis zum 02.03.2025) ziehen unseren Fokus auf die Frauen am Rande der Gesellschaft: Die Frauen, denen wir auf Augenhöhe gegenüber stehen, wirken zumeist unfreiwillig, oft trotzig und zugleich von einer Aura des Unverwüstlichen wie Fragilen umgeben. Ich frage gleich nach, ob die Fotografin wohl auch einst in Wien zugange war, aber leider nicht. Ihre Bilder aus den USA (und Indien) stammen aus den 1970ern, den 1980ern und 1990ern, ein paar auch aus dem ersten Jahrzehnt diesen Jahrhunderts und wirken zugleich so zeitlos wie aus der Zeit gefallen. Menschen, wie großartig sind eigentlich Menschen?

2. Leopoldmuseum | Poesie des Ornaments

Im Leopoldmuseum, das wissen die analogen und digitalen Litfaßsäulen der Stadt, sind aktuell zwei Ausstellungen zu sehen, Rudolf Wacker im ersten Untergeschoß und das neu erworbene Backhausen-Archiv unter dem Titel Poesie des Ornaments (bis 09.03.2025) im zweiten Untergeschoß. Hier regiert das Muster in so vielfältiger Form, das einem schwindelig werden könnte, vor allem wenn man sich, wie auf den begleitenden Fotografien ausgeführt, vorstellt, das ganze Räume sich dem ausgewählten Ornament zu unterwerfen hatten, von Bodenfliesen und Tapete, über Sitzbezüge und Einlegearbeiten, hinzu Besteckauswahl und den Bildern aus der Wand. Man ist versucht zu sagen, function follows design. Die gezeigten Ornamente, ob mit Bleistift skizziert, im farblich ausformuliert und im Musterbuch mit Stoffen belegt, oder in ausgestellten Möbeln gewebt oder später gedruckt ausdefiniert, machen uns Besucher staunen. Anfangs noch sehr gegenständlich, wenn auch bereits in Wiederholungen eingebunden zumeist florale oder sagen wir organische Motive, so werden die Motive zunehmend flächig und abstrakt.

Das 1848 gegründete Wiener Unternehmen Backhausen ist über Wien für sein Dekor, seine Stoffe und seine Erfindungen in diesem Bereich bekannt. Chenille etwa, der in zwei Schattierungen, matt und glänzend, ein und derselben Farbtons schimmernde Stoff, für Servietten, Tischwäsche und Polsterbezüge im Einsatz etwa, haben die meisten von uns bereits im Einsatz erlebt. Backhausen schafft es auf einzigartige Art und Weise über diverse Jahrzehnte, dreierlei zusammenzuführen: Ihre hauseigene Kompetenz, was Materialien und Produktion inklusive Skalierung angeht, das zweite ist ein Gespür und die Bereitschaft sich an den Zeitgeist und seine Bedarfe anzupassen und drittens für das Design die Künstler:innen der Zeit einzubinden. Offenkundig sind es zuallermeist tatsächlich Männer, Architekten  und Designer wie Otto Wagner, Josef Hoffmann, Koloman Moser, Dagobert Peche, schönerweise aber auch einige Frauen, allen voran Else Unger, My Ullmann oder Jutta Sika.

3. Kunsthistorisches Museum | Daniel Neuberg

Last but not least folge ich wie bei fast jedem Besuch dem Ruf ins Kunsthistorische Museum. In den ehrwürdigen Hallen am Maria-Thereisenplatz wurde unlängst ein Schatz aus Wachs  gehoben, den einst die Hände eines gewissen Daniel Neuberger schufen, um genau zu sein zwischen 1621–1680. Anlässlich notwendiger Restaurierungsarbeiten an zwei seiner Hauptwerke trat die Qualität seines Werkes und seiner Kunst hervor, wurde eingehend interdisziplinär erforscht und steht nun, und als Sonderausstellung  bis 9. Juni 2025) auf dem Silbertablett allen zur Verfügung, die sich auf ein skulpturales Schaffen jenseits von Materialien wie Elfenbein, Marmor und Holz einzulassen vermögen.

Die ausgestellte Bandbreite an Werken ist groß, die darin erkennbare Virtuosität nicht minder. Neuberger war Bildhauer, Maler, Steinschneider und Literat – seine größte Meisterschaft erlangte er jedoch im sogenannten „Wachsbossieren“, der Kunst des plastischen Formens in Wachs. Die gezeigten Werke erzählen von einer Schaffensfreude, die vor Genregrenzen nicht halt machte, sondern sie im Gegenteil herausforderte, so wurde etwa der Trompe l’loeil-Effekt aus der Malerei in die Bildhauerei überführt und …, nein, das möchte ich hier nicht verraten. Stattdessen Mut machen: trauen Sie sich, packen sie ihr Opernglas ein, manche Werke wie der 60-teilige Zyklus der Metamorphosen nach Ovid sind nur wenige Zentimeter groß, und begeben Sie sich ein paar Jahrhunderte zurück an den Hof des Kaiser im Wien des 17. Jahrhunderts, fragen Sie nach dem Kaiserautomat eines gewissen des Daniel Düsentriebs Neubergers, der pssst! eigentlich gar kein Wiener, sondern nei’gschmeckter gebürtiger Augsburger war, und lassen Sie sich zum Staunen bringen.

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Und für alle, die sich gerade nicht in Wien aufhalten, bietet die New York Times zehnminütige Tauchgänge in einzelne Kunstwerke, wie z.B. den Brueghel aus dem Wiener KHM.