Gemäuer, Zettelkasten

Jean Gebser: Wir gehen immer verloren

Wir gehen immer verloren,
wenn uns das Denken befällt,
und werden wiedergeboren,
wenn wir uns ahnend der Welt

anvertrauen, und treiben
wie die Wolken im hellen Wind,
denn alle Grenzen, die bleiben,
sind ferner als Himmel sind.

Und es will vieles werden,
aber wir greifen es kaum.
Wie lange sind wir auf Erden
Ängstliche noch im Traum.

Fragwürdige noch wie lange,
da alles sich schon besinnt,
da das, was einstens so bange,
schon klarer vorüberrinnt?

Dass uns ein Sanftes geschähe,
wenn uns der Himmel berührt,
wenn seine atmende Nähe
uns ganz zum Hiersein verführt.

Jean Gebser, 1905 – 1973
www.jeangebser.ch

The Story behind the Picture, Zettelkasten

Zusammendenken / Zusammen denken : Gemeinschaft und/oder Gemeinsinn?

Shoegaze at Globe Theater Berlin 2021 | © Anne Seubert

Gemeinschaft scheint mal wieder eines der politischen und gesellschaftlichen Konzepte der Stunde. Es taucht nicht nur in den Selbst- und Fremdbeschreibungen von rassifizierten, diasporischen, religiösen und nicht-heteronormativen ›Communities‹ sowie von Subkulturen und Fangemeinden auf. Er findet sich in der etablierten politischen Rhetorik, in den Kommentarspalten auf Social Media und den Postings der Unternehmens-Kommunikatoren, wie etwa bei Fragestellungen von Leadership und Onboarding. Der Begriff findet sich bei den Klima-AktivistInnen genauso wie bei den Sozial-Ethikern und Gewerkschaften. Das gemein(sam)e Wohlergehen, der Common Purpose ist die Leitfigur von Sozial-UnternehmerInnen und Gemeinwohl-ÖkonomInnen, bei Fußballtrainern wie bei StiftungsgründerInnen, in der Provenienzforschung wie im World Economic Forum in Davos hoch im Kurs. Warum eigentlich? Woher rührt diese Sehnsucht nach Ent-Einzelung?

»Gemeinsinn« gegen »Lifestyle-Linke«

Figuren wie Sarah Wagenknecht bringen den »Gemeinsinn« gegen »Lifestyle-Linke« in Stellung. Worauf aber gründet sich eine kollektive Identität? Wo liegt dieser Sinn, der als Leitbild kollektiven Lebens dient? Und wie kann er eine Form annehmen, die kein Fundament exklusiver Nationalismen bildet, die eher ein- als ausschließt? In einem Seminar des Brechtforums Berlin befragten wir unter den kompetent-provozierenden Leitfragen Jasper Schagerls die Produktion kollektiver Identitäten auf ihre impliziten und expliziten Voraussetzungen hin.

Shoegaze at Globe Theater Berlin 2021 | © Anne Seubert

Entgegen einer sozialwissenschaftlichen Denktradition, die den Gemeinschaftsbegriff demjenigen der Gesellschaft gegenübergestellt und eine Entwicklungslinie von organischen Einheiten und traditionellen Kollektivierungsformen zum anonymen Gesellschaftsvertrag gezeichnet hat, wird suchten wir innerhalb des Seminars Spuren von Gemeinschaften und ihren Wesensmerkmalen. Anhand exemplarischer Texte aus der politischen Philosophie und Kulturtheorie von Immanuel Kant, Hannah Arendt, Jacques Rancière, Lauren Berlant, Sara Ahmed, Judith Butler, Silvia Federici oder  Saidiya Hartman untersuchten wir insbesondere die Reahmenbedingungen von Gemeinschaften, die sich identitären, völkischen oder universalistischen Vereinnahmungen widersetzen und in einem widerständigen Verhältnis zu hegemonialen Lebensformen stehen.

Gemeinschaft oder Community?

Fragestellungen, die uns begleiteten waren etwa: Was macht eine Gemeinschaft oder eine Community aus? Wie und durch wen wird sie begründet? Welche Affektlagen setzt sie voraus? Durch was wird sie vermittelt? Von welcher Art ist der ihr korrespondierende Gemeinsinn? Und welche politischen und ethischen Praktiken sind in sie eingelassen?

Wir spielten Szenarien durch und hangelten uns durch die Diskurse der AutorInnen, wir klärten Begriffe und fanden uns immer wieder in der besonderen Ästhetik des gemeinsamen Aufbruchs, der vereinten Kräfte, dem Charme der gemeinsamen Mission, der Unwiderstehlichkeit von Verbrüderung, von Versammeln, Teilen und Zusammengehören. Wir diskutierten die Möglichkeit eines kollektiven Werteverständnisses, die Halbwertszeit von Communities, die Rolle von Selbst- und Fremdwahrnehmung, das Momentum der Zwecklosigkeit von Gemeinschaft und die Wichtigkeit von Urteilen. Wir zogen Grenzen und verwarfen sie, wir probten Definitionen, ersetzten den Kriterien mit Bauchgefühl und erlebten immer wieder wie heterogen unser Verständnis von Gemeinschaft , wie fragil und stabil zugleich dieser Gemeinsinn, wie unantastbar und erst im Greifen, im Tun entstehende Moment des Zusammenseins möglich wird. Wir bemerkten ein ums andere Mal wie das, was nicht dazugehört, was nicht Gemeinschaft ist, was bedroht, in Frage stellt, ausgegrenzt, abgewertet und unterdrückt wird, Gemeinschaft stark oder überhaupt erst nötig macht.
Shoegaze at Globe Theater Berlin 2021 | © Anne Seubert

Wir sammelten Begrifflichkeiten und erprobten sie in verschiedenen Zeiten. In welcher Community hätte sich eine Hannah Arendt aufgehoben gefühlt, welche Crowd wäre Kant Lobby gewesen, wieviel Öffentlichkeit braucht eine Mission und wer definiert, was schlussendlich wahr?

Die Wahrheit ist der gemeinsame Boden auf dem wir stehen.

Immer, wenn Arendt in „Wahrheit und Politik“ über Wahrheit schreibt, spezifiziert sie genau, welche sie meint: his­torische, triviale Wahrheit, irgendeine, psychologische, paradoxe, reale Wahrheit, philosophische, verborgene, alte, offenkundige, relevante, rationale, machtlose, teilnahmslose, mathematische, halb-wahre, absolute und faktische Wahrheit. Da gibt es kein „die Wahrheit“, sondern nur Wahrheit in Bezug auf etwas ­bestimmtes. Die von ihr angefügten ­Adjektive transformieren das Konzept in etwas Weltliches.

Operation Reflektion

Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Sie klingen einfach, die vier Fragen, aus denen Immanuel Kant seine Philosophie der Aufklärung entwickelte, und sie führen zu Nummer fünf: Wie wird aus einem Einzelnen eine Gemeinschaft? Was lässt mich in der Welt zuhause fühlen?

Genau da kommt der Gemeinsinn als Ortungsorgan zwischen den Menschen ins Spiel: Er schafft die Verbindung zwischen den einzelnen Exemplaren als Beziehung zwischen zwei Äquivalenten. Er stellt sicher, dass wir Teil der Weltengemeinschaft, Teil einer Wertegemeinschaft sind, dass für uns beide selbstverständlich und damit nicht erklärungsbedürftig schön, wahr, gut und richtig ist, als Bezugspunkte in unserer heterogenen, dieses Ein-Verständnis immer wieder herausfordernde, Welt. Bourdieu, ick hör dir trappsen? Aber hallo, Bourdieus Konzepte des Habitus, des Sozialkapitals, der kleinen Unterschiede auf Grundlage eines sich kollektiv bildenden (Klassen-)Geschmacks, der jeden individuellen Gusto außer Kraft setzt, gründet genau dort. Auch Taktgefühl, Schicklichkeit und Moral knüpfen dort an.

Shoegaze at Globe Theater Berlin 2021 | © Anne Seubert

Kritisches Denken als Besuch

Wir übten uns im Kritischen Denken als Besuch im Möglichkeitsraum zwischen wünschenswerten und verantwortungsbewussten Urteilen, zwischen gefürchteten, wahrscheinlichen und wirklichen Wahrheiten. Wir luden Fakten auf ein MRT ein und gönnten uns, einzelne Absätze auf Herz und Nieren zu prüfen, ins Gegenlicht zu halten und dann doch nicht ins Regal zu stellen. Es blieb uns oft nichts anderes übrig, als zuzuhören, nachzuspüren, einzutauchen und liebgewonnene Denkmuster über Bord zu werfen. Kritik als Möglichkeit dazuzulernen, außer sich zu geraten und dort, in der Gemeinschaft anderer, heimisch zu werden.

Was lässt mich in der Welt zuhause fühlen?

oder vielleicht besser:

Wer lässt mich in der Welt zuhause fühlen?

Der Mensch als geselliges Wesen, als auf Kommunikation ausgerichtetes Geschöpf, das sich erst im Auge eines Betrachters, einer Zuhörerin, vollendet? Mit-Menschlichkeit als conditio humana? Dann wäre schön, was dir gefällt, was qua Definition auch das ist, was mir gefällt und der Boden auf dem wir beide stehen, auch wenn immer mal wieder einer aus der Reihe tanzt oder vielleicht gerade deswegen, weil eben genau dieses In-Frage-Stellen aus den eigenen Reihen, diese Gefahr, uns erst mit dem nötigen Nachdruck eint, unser Zuhause definiert und wach und wertig hält und diesen unseren so oft heute zitierten Gemeinsinn eicht.

Ciao? Sono vostro schiavo!

Von Menschen, die in einem bestimmten Kulturkreis vereint sind, wird die Bereitschaft zur Einordnung und Einhaltung definierter Umgangsformen gefordert. Wer sie missachtet, läuft Gefahr, von dieser nicht mehr als Teil derselben anerkannt zu werden. Ein eigener Gruß etwa, der wie eine Art Codewort fungiert, stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Mittels seiner Kenntnis und formvollendeten ausnahmslosen Anwendung weisen sich die Grüßenden als Angehörige der Gruppe aus und grenzen sich gleichermaßen von allen anderen Menschen ab. Wir erinnerten uns an in Zeiten der Zünfte gebräuchlichen Handwerksgrüße wie „ Hui, Schütz!“ oder  die Metzger mit „Katzof!“, sowie die Anhänger verschiedener Sportarten oder Hobbies wie „Gut Holz“ für Kegler oder „Petri Heil“ für Angler, an den Hitlergruß natürlich auch und fragten uns daher durchaus kritisch nach auch im digitalen Kontext tragfähigen zeitgemäßen Konzepten von Gemeinschaften und ihren Grüßen und Erkennungsmerkmalen.  Woran würden wir uns erkennen?

Shoegaze at Globe Theater Berlin 2021 | © Anne Seubert