Kichert verlegen und weiß doch ganz bestimmt, dass sie den Herrn W. nicht duze. Seine Frau zwar bereits seit über 20 Jahren, aber ihn nicht. Erwin oder nein Erich hieße er, und sie mag ihn sehr, als einen der ganz wenigen Rechtsanwälte. Und letztens am Telefon, da hätte er seiner Frau gerufen, die Gerda sei dran, da hätte sie schon kurz geschwankt, ihm das Du anzubieten. Aber sich dann doch dagegen entschieden, es bleibt beim Herrn W., denn Herr W. ist einige Tage älter als sie. Entscheidende Tage wohl, denn beide sind sie 88.
Nur noch das Hirn funktioniert, knurrt sie zwischen zwei Gabeln grünem Salat, und blickt unleidig auf die übrigen Körperteile. Alles nicht mehr das, was es mal war. Sie weiß so viel, dass kaum Fragen gestellt werden, und wenn, ohne Chance auf Beantwortung. Ist der Film in ihrem Kopf erst einmal eingelegt, lohnt kein Einwand., kein Aufschub wird gewährt. Nur zwischendurch aus dem Bauchladen ein Eis anbieten, ist dem Gegenüber vergönnt, und heimliches Schmunzeln. Die Kellnerin trägt es mit Fassung, ihr Tagesgericht dreimal anpreisen zu müssen, und lächelt die Unsicherheiten und mannigfachen Entschuldigungen für unsere Verspätung hinweg.
Sitzt da und nuckelt glücklich kleckernd am Eiskaffee, fast lässt sie Blasen blubbern, die grauen Haare endlich mal nicht mehr straff gescheitelt. Eigentlich hatte sie keinen Appetit, umso besser schmeckte dann die Scholle zu den Mandelkartöffelchen und wie noch mal der Baum hieße, unter dem wir sitzen? Es macht sie stolz, dass man ihren Namen bei der Tischreservierung noch kannte, obwohl der Mann, der bei seinen Aufsichtsratessen den Ruf dazu festigte, schon 16 Jahre begraben liegt. Der Schock, dass sie beim Nachtisch die weinroten Kirschen nicht mehr vom sahnegelben Vanilleeis unterscheiden kann, bahnt sich im idyllischen Sommernachmittag seinen dunklen Pfad in mein Bewusstsein.
Jungs mussten nicht helfen, sagt sie, aber ich habe die Wurst im Waschkessel gerührt, habe Speckschwarten gewürfelt im Keller. Wütend, dass die Jungs derweil spielen durften! Die Eier vom Dorf, in dem sie als Kind die Ferien verbrachte, die wurden einzeln in Zeitungspapier geschlagen, zur Isolation, und zwischen die Wäsche gelegt. Keins ging dabei zu Bruch. Erinnerungsfetzen.
Heute kurvt sie das Auto die Berge hoch und runter, ins Parkhaus und über die Grenze und nur einmal verwechselte sie auf dem steilen Weg vom Haus runter in die Stadt Gas- und Bremspedal. Es blieb bei einem sehr kurzfristigen Schreck und führte zu einem neuen schnelleren Auto. Sie will mobil bleiben, denn der Terminkalender ist gut bestückt. Zwischen die häufiger werdenden Arzttermine schiebt sie hartnäckig Einkaufsfahrten ins Nachbarland, Klavierstunden des Enkels und Verabredungen zu Doppelkopf und Tennis. Nächste Woche aber wird, wie fast jedes Jahr, der Freund aus Schultagen im nördlichen Finnland für einige Wochen und alle Sehenswürdigkeiten unterwegs besucht.