Gelage

Kaléko und Kästner am Lyriktelefon – ein Sixpack der eindringlichen Art

Hotel Adlon | © Anne Seubert

“Heute Abend ist es so weit! Sie erwarten 20 Minuten Poesie live am Telefon unter einer Ihrer angegebenen Telefonnummern. Halten Sie sich einfach zu Ihrem gebuchten Zeitblock bereit:
#08.02.2021, Beginn 17:50 Uhr. (B6)
Unsere Schauspieler*innen rufen Sie an.
Heute erwarten Sie Gedichte von Rainer Maria Rilke und Hilde Domin.”

Als Email erreichte mich diese Nachricht heute Nachmittag, seitdem wuchs die Vorfreude. Um 17:50 Uhr klingelte mein Telefon und Klaus Rodewald, Ensemblemitglied des Schauspiels Stuttgart erkundigte sich, ob ich es mir bereits gemütlich gemacht habe. Dann ein Update, das Porgramm habe just gewechselt, Erich Kästner und Mascha Kaléko seien nun im Programm, mit wem er beginnen sollte. Ich entschied mich spontan für den Kästner (meiner Kindheit) und bekam eine kleine Einführung. Es folgten drei seiner Gedichte, eines düsterer als das andere. “Misanthroplogie” – “Schöne Dinge gibt es dutzendfach” als Hors d’Oevre. Es folgte “Kennst du das Land, wo die Kanonen blühen”, das einzige der drei, das ich kenne und das ich trotzdem gerne zweimal vorgelesen bekomme.

Vorgelesen bekommen. Welch Luxus! Einer Stimme folgen dürfen, einer Betonung, einer Gewichtung, einer Dramaturgie, einem Tempo. Gedanken folgen zu dürfen ohne den Text zu verlieren, denn der wird mir ja vorgelesen. Im Anschluss jeweils ein kurzer Austausch, wie ist es uns ergangen mit dem Text, ihm, der ihn vorbereitet hat, mir, die ich ihn in mich habe hereinsinken lassen. Zum Schluss lässt Klaus Rodewald Erich Kästner fragen: “Wo bleibt da das Positive?” Ein Text aus dem Jahr 1930, der uns beide schlucken lässt.

Ihr baut schon wieder Balkons vor die Herzen
und nehmt die strampelnde Seele aufs Knie.

Habt Sonne in sämtlichen Körperteilen
und wickelt die Sorgen in Seidenpapier!

Halbzeit. Nach 10 Minuten.
Auftritt Mascha Kaléko. Die Alltagslyrikerin wird sie genannt. Auch hier hat Klaus Rodewald drei Texte kuratiert. Wir fragen uns, ob sie aufgeführt, deklamiert wurden, oder ob sie ihr Publikum als Lettern auf Papier erreicht haben. Hatten Sie Kalékos Stimme?

“Was man so alles überlebt?” aus „In meinen Träumen läutet es Sturm“ wird als erstes gelesen. Ein anderer Tonfall, ein Selbstgespräch, eine Frau, die in Worte fasst, was wir gerade alle denken.

Das Unglück läppert sich
mit oder ohne Schuld.
Die Katastrophe spricht mit zynischem Gähnen:
Geduld, Geduld,
du wirst dich schon an mich gewöhnen.

“Resignation für Anfänger”, der Titel des zweiten Gedichts, spricht für sich. Ich möchte nicht, dass diese Vorlesezeit aufhört, die ich mir in meinen Alltag geschnitzt hatte. Nur noch ein Gedicht? Da erinnere ich mich, dass man auch weitere Vorlese-Runden buchen darf und dass alle 2 Wochen das Programm wechselt und ich kann mich wieder auf das letzte Gedicht konzentrieren. Es sei sein Liebglingsgedicht, sagt Klaus Rodewald, und es hieße “In dieser Zeit”.

Er liest es einmal und ich bitte um Nachschlag, nochmal möchte ich kosten vom “zugeworfenen Brocken Glück”, von diesen treffsicheren Bildern zwischen Pathos und Pragmatismus, zwischen kindlicher Chuzpe und Weisheit, die kein Alter kennt.

Wir wurden alt, bevor wir jung gewesen waren.

Das sei seine seine Lieblingszeile verrät mir mein Vorleser zum Abschied, dann klingelt auch schon sein nächster Vorlesetermin und beendet unseren Aufenthalt auf dieser Insel der Lyrik. Danke dass ich anlanden durfte für ein paar Minuten, liebes Schauspiel Stuttgart!