Geliebte

High Noon – Ende einer Ehe

Vielleicht hätte ich es nicht so offensichtlich loben sollen, vielleicht hätte ich schweigend genießen sollen. Vielleicht hätte ich es auch weniger in Anspruch nehmen sollen, vielleicht hätte ich mein Gewicht reduzieren sollen. Vielleicht hätte ich zärtlicher sein sollen, aufmerksamer, rücksichtsvoller. Vielleicht.

Fakt ist: Nach bald 20jährigem Dienst brach das Grüne heute in den Minuten zwischen a. und p.m. unter mir entzwei. Gerade noch waren wir unter Nieselfäden den „Berg“ hinunter gerollt, hatten uns synchron in die Kurven gelegt, waren geschmeidig anderen Verkehrsteilnehmern ausgewichen, hatten kühn Ampelphasen bis ins Orange ausgereizt, da knackte es kurz aber bestimmt. Nicht sofort verstand mein Gehirn die Tragweite dieses Knacklautes, es bedarf der Finger, die trotz energischen Drucks die Bremse nicht mehr wirken machen konnten. Und auch da noch weigerte sich der Verstand, sich die Endgültigkeit einzugestehen. Es war nur ein Bremszug, Heinrich, der zersprang!
Beim nächsten Knacklaut aber stiegen die Ahnungen in mir hoch, wie mag es sich anfühlen wenn ein Rahmen bricht. Wo bricht er eigentlich und spürt man das?

Als Kind war ich der Meinung, dass, wenn mensch sich ein Bein bricht, das Bein tatsächlich ab ist. Abgebrochen. Ich konnte mir unterschiedliche Brüche vorstellen, aber stets war in meiner Vorstellung ein Teil des Beines getrennt vom Körper. Mit dem Rahmenbruch verhält es sich ähnlich wie mit einem Beinbruch, das Grüne sieht nicht anders aus, kein Teil ist abgebrochen und nur wer ganz genau hinschaut, sieht dass der Rahmen unter dem Sattel gebrochen ist.
So brauchte auch der junge Mann in dem Fahrradgeschäft eine ganze Weile, bis er verstand warum mein Bremszug nicht gerissen und die Bremse trotzdem nicht mehr tat. Er operierte einige Minuten, erst den Zug raus, um festzustellen, dass er noch fast neu. Dann versuchte, er mir eine neue Ummantelung für den Zug zu verkaufen, teflonbeschichtet, damit es sich leichter bremste. Auf meine Kaufverweigerung hin, baute er den alten Zug wieder ein, justierte die Spannung und da, ob der Verwunderung, warum der Zug sich weiterhin nicht spannte, sah er den Bruch. Die doppelte Bruchstelle und da wurde auch mir klar, die Fahrt zu diesem Laden, war unsere letzte.

Seitdem nehme ich Abschied. Ich habe es heute mit mir durch die Stadt geschoben, liebevoll an der Lenkerstange geführt. Nach jedem Stop musste mein Verstand mein Bein daran hindern sich über den Sattel zu schwingen und der Anblick der anderen Räder schmerzte.
Wir werden nie mehr die Stadt gemeinsam erobern, nie mehr werde ich zittern, ob es noch unversehrt an der Stelle steht, an der ich es zurückgelassen hatte, weil ich Gebäude betreten musste, zu denen ihm der Eintritt verwehrt blieb. Nie mehr werde ich mein letztes Taschentuch opfern, um ihm die Regentropfen vom Sattelknauf zu wischen, nie mehr ob des flackernden Rücklichts mit ihm schimpfen. Es erscheint mir fast pietätlos nach Ersatz Ausschau zu halten und doch weiß ich: Es muss. Je eher desto besser.

Darum an dieser Stelle auch die Frage: hat jemand ein Grünblaugelbrotes in liebevolle Hände abzugeben?

Geliebte

Herbstzeitloser

Trägheit war sein Name und Schwielen polsterten nur ungenügend seinen Weg. Seit man ihm, als Kleinkind noch, das Lächeln als potentielle Blödheit ausgelegt hatte, hielt er seine Mundwinkel unablässig waagrecht. Das vermied effizient Gesichtsfaltenbildung, trug aber ebenso konsequent wie unvermutet zu Herzbeschwerden bei. Diese zeigten sich in seinem Blick, der magnetisch von Pflastersteinen angezogen wurde, und in sehnenden Schmerzen die seine Arme entlang sirrten. Den Anblick offenen Himmels ertrug er nur schwer und gegen fremder Augen Fokus auf seiner Haut reagierte er regelrecht allergisch. Pusteln waren noch das Wenigste, meist zogen sich in der Folge blutunterlaufene Risse von den Einblickstellen ausgehend über seinen gesamten Leib. Er presste im Reflex die Lippen zusammen und die Fäuste in die Taschen und fluchte innerlich über die plötzliche Anspannung, ausgelöst durch nicht unerhebliche Nackensenkungen. Das Bluten unterblieb meist innerhalb weniger Minuten, doch die Risse blieben spürbar offen, verkrusteten zuweilen halbherzig, nur um sich bei nächster Gelegenheit ausdehnend aufzuspreizen.

Mitunter wurde ihm das Einatmen schwer, seine Lunge beherbergte sowieso nur mehr kleine Luftpölsterchen, regelrecht zur Last, so dass er gerne eine paar Atemzüge ausgesetzt hätte. Hatte er dann jedoch erst einmal eingeatmet, ging das Ausatmen leicht –er scheiterte daran zumindest signifikant seltener. Man hatte ihm Kaffee empfohlen, den er abwinkte, er trank Kondensmilch pur und doppelt süß und weigerte sich an eventuelle Zusammenhänge zwischen Atemnot und Ernährung auch nur zu denken. Pumpernickel und drei Mixed Pickles ergänzten sein Menü Tag für Tag, nur selten und äußerst ungern wich er auf Kuchenbruch aus. Er konnte am nächsten Tagen mit Verdauungsbeschwerden rechnen und kündigte sie dementsprechend bereits beim Verzehr lautstark und in angemessenem Tonfall an.

Er war nicht unfreundlich, manchmal sogar interessiert, aber es fiel ihm zugegebenermaßen schwer, sich mit Haut und Haaren für Mitmenschen oder Gegenstände zu begeistern. Dass sich das noch einmal ändern würde, bezweifelte er, sein Denken war längst nicht mehr so flink auf den Beinen und seine – wenn auch raren – Äußerungen bereute er immer öfter ob ihrer Ungelenkigkeit und Grobheit. Er zog sich merklich hinter seine Stirn zurück, die sich beulte und verzerrte und so sein Haupthaar zurückdrängte. Seine Haut, das bleibt zu sagen, zeigte sich unverhohlen nackt, wo es nur ging, und er liebte den Schauer kalten Winds, der ihm verstohlen an jeder Häuserecke unter die Ärmel fuhr. Er sehnte nicht, er flüchtete nicht, er ging und das stets zu Fuß. Fahrpläne und Uhren waren seine Sache nicht.