Ilse H. sitzt auf ihrem Bett als ich ihr Zimmer morgens um 7 Uhr zu unserem mache. Sie lächelt noch nicht, verfolgt aber alle meine Bewegungen, wir scherzen inhaltlos, dann muss ich auch schon entkleiden, der OP wartet nicht gern.
Der Klinik-Automatismus übernimmt, ich werde abgeführt und komme als Zombie wieder. Ilse hat das alles im Blick und fragt mit beim Aufwachen gleich Löcher in den mittlerweile leeren Bauch.
Ich dämmere nochmal weg und werde von einem Lied geweckt: Ilse hat “´s ist alles dunkel, ´s ist alles trübe” angestimmt, ihr Lieblingslied, wie sich bald herausstellt, sie kann alle Strophen auswendig, nur die Stimme bricht manchmal weg, altersbedingt, sagt sie und ärgert sich. “Was nützt mir ein schöner Garten, wenn andre drin spazieren geh’n, …” summt sie, “Stimmt doch auch!” immer wieder bestätigend dazwischen zu werfen. Ich stimme zu und dann soll ich ein Lied aussuchen und muss passen. Stattdessen dämmere ich wieder weg und Ilse stimmt für mich ein Gute-Nacht-Lied an: Guten Abend, gute Nacht…
Sie hat ihre eigene Version davon, wie auch vom Erlkönig, den sie mir in ihrer Version anvertraut:
“Wer rattert so spät durch Nacht und Wind,
es ist der Vater mit seinem Kind.
Tochter Elfriede mit Vater Fritz
auf einer BMW 1000 mit Sozius-Sitz….
“Oh Kind, warum verbiegst du so bang dein Gesicht?”
“Siehst Vater du den Bahnübergang nicht?
Den neblichen unbewachten in weiter Ferne?”
“Sei still, mein Kind, ich hab ‘ne Boschlaterne.”
Am Nachmittag bekommt Ilse Besuch von ihrem Neffen und in der Beobachtung der beiden wird klardeutlich, dass sie nicht nur sympathische Seiten hat und die Demenz ziemlich weit fortgeschritten ist. Der Neffe hält sich tapfer, geht aber bald wieder und wir sind wieder allein. Wie alt ich sie schätze, will Ilse wissen und ich gebe ihr spontan 80, was sie freut, denn sie ist am 7. Juli 2016 94 geworden und lebt als einziges ihrer 10 (!) Geschwistern noch. Mir gibt sie ebenso spontan wie kichernd 50 Jahre und ich widerstehe nur schwer dem Drang, zum Spiegel zu rennen.
Je länger die Tage, umso klarer wird, dass sich bei mir das Herz nicht so zurecht macht, wie es sollte und Ilse immer tiefer in ihre Vergangenheit abdriftet. Wir sprechen von ihren Brüdern, den zwei Lieblingsbrüdern, die sich vom Lehrer nicht haben verprügeln lassen. Von denen, die an Diphtherie und denen, die in russischer Gefangenschaft an Hunger gestorben sind, jeweils 2. Sie ärgert sich noch heute, wie sehr Hitler ihr Leben zerstört hat. Ihre Eltern beschreibt sie als sehr liebevoll, sie als Nesthäkchen war das Wunschkind des Vaters, der sich nach der ersten Tochter noch eine gewünscht hatte und dann nur mehr Buben aufgetischt bekam, bis schließlich Ilse sich ankündigte und er sich mit dem Namen Ilse gegen alle anderen Familienmitglieder durchgesetzt hatte.
“Gar nicht so einfach, ein Stachelschwein zu kitzeln!” lacht Ilse H sich ins Fäustchen und wir sind endlich beim Du. Dass ich nicht nur keine Lieder singen kann, sondern auch keine Witze erzählen, nimmt sie noch als Möglichkeit zum Necken zur Kenntnis. Doch dann hört sie plötzlich das Horst Wessel-Lied. Da kennt sie kein Pardon. Wer sich erdreiste, das hier zu singen! Ob die nicht wüssten, dass sie dafür angezeigt werden könnten? Und etwas zaghafter: Ob Günter oder etwa Gerhard, der liebste von all ihren Brüder, dabei seien?
Es lässt sie nicht mehr los, sie brummelt und will eingreifen, wird umso aggressiver, je weniger passiert und beginnt, sich anzuziehen. Ein langwieriger Prozess, ihr Körper ist so brüchig wie ihre Stimme, von Blutergüssen übersät, der rechte Arm im Gips. Es wird wohl ein Sturz gewesen sein, der sie herbrachte. Das Lied hört nur sie, aber es ist ihr unerträglich, sie wird wütend, auch auf mich und als die Schwester kommt, ist ihre Verzweiflung greifbar.
Plötzlich weiss sie nicht mehr wo sie ist, will nach Hause und ist ja auch nur zu Besuch, wer wollte da widersprechen? Sie will mir an den Kragen und der Schwester entgegen. Sie hat plötzlich Angst und ich auch.