Geliebte

Zou maï !

Für immer, vielleicht.
Jean-Claude Izzo

Eine Stadt ist eine Stadt ist eine Stadt. Meine Stadt ist zudem ein Kino. Ein Kino in dem gleichzeitig Filme in verschiedenen Sprachen laufen, manche hochkant, manche 16:9. Alle O.M.U. Manche Fassade ein Still, das den gesamten Film verrät, manche Fassaden kündigen den Film nur an, andere verheimlichen mehr, als das sie offenbaren. Wieder andere vereinen exklusiv alle Highlights, so wie mancher Trailer, und enttäuschen dann in der Langversion.

Meine Stadt ist eine offene Tür. Kaum sah man sie, bekam man schon Appetit.

Jean-Claude Izzo

Den Trailer zu Marseille, der Stadt Jean-Claude Izzos lernte ich in Fetzen kennen, durchaus positiv gemeint. oder hingeworfen wie einen herausfordernden Fehde-Handschuh: Hier ein hingeworfenes “Da, mein Licht!”, dort ein ” Ich bin die zweitgrößte Stadt Frankreichs. Und die älteste”. Hier ein “Drehort einer Serie mit Alain Delon” verfilmt, dort ein “Macrons Liebling”. Dabei wollte ich da längst Marseille kennenlernen, wenn nicht gleich liebenlernen, nicht immer erfolgen die beiden zeitlich versetzt. Dass es schließlich Dezember werden musste, bevor ich mich auf den Weg machte? Zugegeben. Aber! Marseille kann auch im Winter Sonnenseite satt.

Appetit anzuregen ist vermutlich nicht Marseilles vorrangige Mission, aber willkommener Seiteneffekt einer Hafenstadt-Identität mit über Jahrhunderte sich heimisch machenden Kulturen und ihren kulinarischen Praktiken. Alle ihre Kinder satt zu bekommen bei der Vielzahl an Leibgerichten eine tägliche Aufgabe, die der Stadt Vergnügen zu bereiten scheint, und ihre Straßen mit Gerüchen und Aromen schwängert, mit einladenden Türen und Tischen bestückt: Hier die Bouillabaisse, dort das Croissant, hier der Pastis, dort der Kaffee, hier die Tajine, dort das unaussprechliche jamaikanische Nationalgericht vom offenen Feuer. À Table, mes amis!

Allzu oft wagen wir es nicht, bis zum Ende unserer selbst zu gehen.
Man kreuzt den Blick des Anderen wie eine Einladung. Aber man bleibt am Ufer stehen. Weil das Ufer ja das ist, was am sichersten ist. Fester Boden unter den Füßen. Dieser Boden, der uns daran erinnert, dass man hier ist, eonem Land, einer Rasse und einer Nation angehört. Die Ufer zieht man im Allgemeinen vor, wenn man fest gebucht hat. Eine Reise. Urlaub. Für eine bestimmte Zeit. Mit einem Reiseführer in der Hand und der Rückfahrkarte in der Tasche. …
Jean-Claude Izzo

Es dauerte einige Tage, bis sich die Eindrücke Marseilles gesetzt hatten und meine eigenen Gedanken auferstehen konnten. Ganz schön vereinnahmend, könnte man meinen, ganz schön drall auch, und auch: ganz schön. Im Wortsinne: ganz und schön, und das für eine wie mich, die bei Ganz sofort einen Bruno ganz durch die Straßen, ja eigentlich rues Marseilles spazieren sieht, mit Hut und offen getragenem Mantel, eigentlich immer eine Kamera oder doch zumindest den ein oder anderen Blick auf sich ruhend wissend, und einen Verschmitzer im Augenwinkel parat. Dabei sprach Bruno ganz meines Wissens nicht einmal französisch, ABER er steht für mich for das Ganze, das vollumfängliche, das jeden Aspekt umfassende oder in seinem Fall einen Charakter eben umfassend zum Ausdruck bringend. Bis in den letzten Winkel, den man auf den ersten Blick zu übersehen versucht, oder auch als Widerspruch antizipierend zu unterdrücken versucht.

Marseille ist eine Stadt, die ohne die Region, die sie umfasst, auf deren Bühne sie entstand, nicht denkbar: Nicht ohne die Küste, nicht ohne den Blick übers Meer, nicht ohne die Calanques, nicht ohne das Licht, man denke nur, und ja, auch nicht ohne die Sprache, die einheimische und die eingebrachten, eingeflochtenen, die aus dem Marseiller Französisch ein dem Handel gewidmetes, in den Kirchen gebetetes, kurz vornehmlich gesprochenes machen, das wie alle diese Sprachen einen gewissen Pragmatismus mit einer Lust am Laut kombinieren. Hach! Und dann ist da ja auch noch die alte Sprache, das Okzitanische, enion frugz venion flors! Allein das zu erkunden, wäre ein Buch wert. Licht und Sprache, hat zu dieser Interdependenz schon jemand promoviert?

Ich träume von freien Räumen. Ich erfinde den Sinn der Erde neu. Und ich erinnere mich an ein zivilisiertes Volk, das meinte, nur ein toter Indianer sei ein guter Indianer. Dann läuft es mir kalt über den Rücken, denn es ist kalt auf den Wegen ins Exil.
Jean-Claude Izzo

Please, dream on, möchte man dem Träumenden zurufen, ne me quitte pas, pas maintenant au moins! Wenigstens nicht jetzt, sondern erst, wenn auch ich Heimat gefunden und ein Volk, das mich trägt. Dass Marseille eine Stadt des Exils, Zufluchtort fliehen müssender, denn nicht anderes sind ja Flüchtende, auch wenn der Ausdruck ihnen eine aktive zuschreibt: Sie werden zu Fliehenden gemacht, sie werden zu Menschen, die ihre Heimat verlassen, sich auf einen Weg machen und woanders ankommen müssen. Das ist kein leichtes Schicksal, ahnen all jene, die gerne fliehen würden, aber es nicht schaffen, die verhaften bleiben, ohne zu müssen, weil ihnen der Mut oder die Vision, die Mittel oder die Verbündeten fehlen. Gleichwohl verfügen die fliehen müssenden über nichts davon. Sie landen an einem Ort an, an dem sie nicht willkommen sind, den sie sich aber auch nicht ausgesucht haben, auf den sie sich also nicht vorbereitet, schon gar nicht gefreut haben. Und damals in den 30ern war das für so manchen, lernte ich vor Ort, Marseille.

„Marseille – das gelbe Maul eines Seehundes, aus dem das Salzwasser zwischen den Zähnen hervorquillt“, schreibt Walter Benjamin, dieser Hassliebe Ausdruck verleihend. Er hatte es geschafft, die Schönheit in der Hässlichkeit aufzuspüren und in diesen widerstreitenden Eindrücken Raum, Material und Muße für sein Denken und sein Schreiben zu finden. Fragen an die Rechercheuse in mir: Hätte er diese Texte auch woanders schreiben, diese Gedanken auch an anderen weniger herausfordernden und ihn damit fördernden Orten schreiben können? Eine rhetorische Frage? Vielleicht. Die Beziehung mit der Stadt, auf die er sich einließ, wurde eine lebens-prägende, für den einen wie für den anderen möchte man meinen und sich erneut in die Straßen Marseilles stürzen, sich hinter aufgeschlagenen Zeitungen verbergend in eins der Cafés setzen, das Treiben nicht nur beobachtend, sondern darauf lauernd von ihm fortgerissen zu werden.