Gerda

Stößchen!

Am offenen Fenster | © Anne Seubert

Heute wäre meine Oma 101 geworden. Seit 2014 feiert sie allerdings ohne uns. In den Jahren zuvor war ich fast jeden Geburtstag mit ihr und vielen anderen Gästen in ihrem Garten. Das örtliche technische Hilfswerk würde ein Zelt aufgebaut haben, der Pool wäre frisch gewienert und der Sekt und die Erdbeeren mit Schlagsahne kühl gestellt. Ein paar Gäste wären von fern angereist gekommen und hätten sich in den nahegelegenen Hotels eingemietet. Manche übten ihre Rede für später, andere entdeckten bislang unbekannt gebliebene Cousins. Ich hätte versucht, meinen ungeliebten Körper in ein Kleidungsstück zu pressen, in dem ich wohl, cool und dem Anlass angemessen gekleidet fühlen würde. Ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen.

Einige wenige Male war es mir nicht möglich, mit von der Partie zu sein. Dann hatte ich versucht, sie telefonisch zu erreichen. Kein leichtes Spiel, aber es ist mir immer gelungen, soweit ich mich erinnere. Aus meiner Platte in Frankfurt an der Oder hatte ich einmal angerufen, der Kontrast in jeder Beschreibung spürbar, da 12 Quadratmeter Beton, dort Himbeerstauden und Häppchen. Und einmal war ich bereits in Berlin und konnte nicht, dafür hörte meine WG mit, wie meine Oma von ihren Gästen berichtete, als gäbe sie gerade eine WG-Party. Und einmal rief ich aus den fernen Wäldern Kanadas, kur vor Alaska an. Ich weiss noch, wie wir eine Telefonzelle suchten und schließlich irgendwo im nirgendwo fanden und wie ich aufgeregt die Nummer wählte und das Kleingeld einführte. Die Liebe zu Kanada teilten wir, sie hatte so wenig Angst wie ich und hatte das Land mit ihrem Mann und einem Wohnmobil ein paar Jahre vor mir bereits. Es war der Lake Louise in den Rocky Mountains, der hinter mit mit ihr um die Wette strahlte.

Einmal aber rief ich nicht an. 15 Jahre ist das jetzt her, das ich dich Arsch überlebt habe. Ich lebte damals im Ausland und wollte eigentlich noch den Sommer dort mitnehmen, bevor ich wieder zurück nach Deutschland kehren musste. Durch unsere Begegnung aber änderte ich meine Pläne und brach adhoc ab. Zog mich zurück. Verschwieg mich und meine Gefühle. Warum eigentlich? Warum war es so unvorstellbar, zum Beispiel dir Ömchen, davon zu erzählen? Mit Müh und Not erfuhr es meine Mutter. Irgendwie ging das Jahr zu Ende und im Herbst wohnte ich bereits in Berlin, buchte mir den zum Abschluss meines Studiums fehlenden Englisch-Kurs und versuchte mich in so etwas wie Alltag. Auf dem Rückweg in mein Leben verlor ich ein Drittel meines Körpergewichts, meine Fähigkeit, Alkohol zu vertragen und meine Liebe für das Land, aus dem ich zurückgekehrt war. Unter anderem. Der Rest ist eine andere Geschichte, die heute nicht erzählt werden möchte.

Dir aber, Oma, wo immer du feierst, wünsche ich heute ein maßgeschneidertes Juni-Menü, eine Runde Doppelkopf mit deinen Freundinnen, einen Tanz mit einem deiner Lieblingsengel und sollte es bei einem von euch heute regnen, liegt das vielleicht einfach dran, dass meine Oma den Sekt mal wieder zu großzügig eingeschenkt und gekleckert hat, nicht umsonst lag unter all ihren Tischdecken eine Schutzfolie, die die Tischplatte vor Kaffee, Bratensauce und Rotwein schützte. Ich gönn mir heute eine Kirsch-Schnapspraline auf dich, auf die nächsten 100, Stößchen!

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